Was haben der ewig untote Dracula, die Korruption, der EU-Beitritt und die Minderheitenprobleme Rumäniens miteinander zu schaffen? All diese Phänomene prägen die postrevolutionäre Entwicklung und die Selbst- und Fremdwahrnehmung des Landes in positiver wie negativer Hinsicht. Der neue Sammelband von Thede Kahl und Larisa Schippel bietet nun einen genauso bunten wie insgesamt sehr gelungenen interdisziplinären Querschnitt durch Themen und Fragestellungen im Zusammenhang mit der Transformation in Rumänien nach 1989.
Das Themenspektrum der 26 Beiträge reicht von politischen Analysen (z. B. zur Bewertung des politischen Neuanfangs seit der Revolution oder der Aufarbeitungs- und Erinnerungskultur) über Minderheitenthemen und juristische Fragestellungen (z. B. die Entwicklung der Meinungsfreiheit oder das rumänische Zivilrecht seit 1989), kulturellen Themen sowie die Selbst- und Fremdwahrnehmung Rumäniens und der Revolution im In- und Ausland bis hin zu geografischen und soziologischen Fragestellungen (z. B. die urbane Entwicklung der Metropolitanregion Bukarest und die Migration im Banat) und Aufsätzen zum Geschichtsverständnis (z. B. die Daker und die rumänische Geschichtsschreibung, das „Nachleben Decebals im Römischen Reich“, dakische Siedlungszeugnisse in der Region Broos/Orăştie).
Vor allem die Texte zu den drei letztgenannten Themen verlangen viel Fantasie vom Leser, will er diese in den Diskurs über „politische Transformation und gesellschaftliche Entwicklungen in Rumänien seit 1989“ einsortieren, wie es der Titel der Sammlung verspricht. Auch philologische Themen, wie die Entwicklung der sogenannten „Limbă de lemn“ – der „hölzernen Sprache“ – werden behandelt und köstliche Beispiele der kommunistischen Phraseologie geboten (S. 326 f.). Die religiöse Entwicklung bleibt bis auf zwei kuriose Aufsätze zur Literatur der Freikirchen in Rumänien bzw. zu den Unitariern als theologische Brücke zum Islam leider völlig ausgeblendet.
Die meisten Beiträge sind ausgezeichnet. Dazu zählen unter anderem die Ausführungen von Friederike Mönninghof zu „Darstellung und Wahrnehmung des Umsturzes in der deutschsprachigen rumänischen Presse“ (S. 39-63), die auch die besondere Rolle der deutschsprachigen Medien für die deutsche Minderheit in Rumänien würdigt. Ebenfalls hervorragend ist die Darstellung der Stereotypen über Rumänien in den deutschen Medien von Claudia Salden („Kriminell, korrupt und rückständig – Rumänien und seine Stereotype in den Medien“, S. 65-88). Sie kommt auf nicht weniger als neun „Stereotypencluster“, in die sich die Berichterstattung in deutschen Medien über Rumänien häufig einordnen lässt: Dracula, Ceauşescu und Kommunismus, Armut und Rückständigkeit, Billiglohnland, Inkompetenz, Unzivilisiertheit, Korruption und Kriminalität (S. 75).
Besonders spannend ist der Beitrag von Sergei Melcher („Entstehungskontexte des Centru Civic. Auf dem Weg zum vertieften Verständnis des neuen Stadtzentrums der rumänischen Hauptstadt“, S. 121-142), der aufzeigt, wie sich im kommunistischen Rumänien Bukarest zur „sozialistischen Stadt“ entwickeln sollte. Er bietet eine Hermeneutik des Bukarester Städtebaus und zeigt die Grenzen der sozialistischen Stadtentwicklung auf. Martin Jung beleuchtet die „Entstehung des Memorial Sighet, der ‚Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus und für den Widerstand‘“ (S. 143-167) und behandelt dabei die wichtige Frage der Erinnerungskultur. Einer der besten Beiträge widmet sich der strafrechtlichen Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit von Julie Trappe („Verjährt, amnestiert, vergessen? Die rumänische Justiz und die strafrechtliche Aufarbeitung“, S. 389-403).
Einzelne Aufsätze werden ungenau, wenn sich Autoren zu Fachgebieten äußern, die erkennbar nicht ihre eigenen Forschungsgebiete sind. Alexander Juraske etwa spricht in seinem – sonst sehr guten! – Beitrag „Der rumänische Antikfilm der 1960er Jahre“ (S. 279-289) von „rumänischen Gebietsgewinne(n) durch den Friedensvertrag von Trianon 1919, als dem jungen rumänischen Nationalstaat Siebenbürgen, die Bukowina, Bessarabien und der Banat zufielen“ (S. 286). Das ist zwar nicht grundsätzlich falsch, aber diese mehrheitlich rumänisch besiedelten Gebiete haben sich bekanntlich selbst für die Vereinigung mit Rumänien ausgesprochen. Und nicht nur die Frage nach der Herkunft der Rumänen stellt einen Legitimationsgrund für Gebietsansprüche auf Siebenbürgen dar. Hier geht es auch darum, wie die rumänische Bevölkerungsmehrheit durch Budapest bis 1918 behandelt wurde. Oder wenn Julie Trappe von der „nordrumänischen Stadt Sibiu“ spricht (S. 391), die bekanntlich in Zentralrumänien liegt.
Erfreulich differenziert argumentiert Othmar Kolar in seinem Beitrag „Die ungarische Minderheit und die rumänische Revolution“ (S. 291-306), der auch auf radikale Strömungen in der ungarischen Ethnie hinweist und vor allem die Ereignisse von Neumarkt/Târgu Mureş von 1990 sehr objektiv darstellt. Er mahnt völlig zu Recht, dass man Minderheitenrechte „nur in Verhandlungen und letztendlich im Konsens mit der Mehrheitsbevölkerung erreichen und nicht durch Konfrontation und Konflikte erzwingen kann“ (S.296) und kommt zu dem berechtigten Schluss, „dass von einem Konflikt zwischen Rumänen und Magyaren als solchem nicht mehr gesprochen werden kann“ (S. 304).
Der teilweise sprunghafte Themenwechsel zwischen den Beiträgen erleichtert die Lektüre des Bandes nicht gerade. Es ist bei einer solchen Sammlung dringend empfehlenswert, die Texte thematisch nach Oberthemen zu sortieren (z. B. Politik – Kultur – Recht – Geschichte). Aber auch wenn das Buch gelegentlich den Eindruck eines Gemischtwarenladens hinterlässt, so sind die hier versammelten Beiträge mit wenigen Ausnahmen für Laien wie Fachpublikum ein großer Gewinn. Der Band bietet wertvolle Einblicke in die „Wendelandschaft“ Rumäniens.
Thede Kahl/Larisa Schippel (Hrsg.): „Kilometer Null. Politische Transformation und gesellschaftliche Entwicklungen in Rumänien seit 1989“, Frank & Timme Verlag 2011, Berlin, 488 S., zahlreiche S/W- und Farbabb. sowie Karten und Grafiken, ISBN 978-3-86596-344-4 (= Forum: Rumänien, Band 10)