„Annelise Schmidt. Ich erinnere mich ganz genau an ihren Namen“. Der 40-jährige Künstler Tara von Neudorf ruft sich den Zeitpunkt in Erinnerung, an dem die einzige sächsische Lehrerin aus Neudorf/Nou (Kreis Hermannstadt) ausgewandert ist. Damals war der nun international renommierte Künstler in der zweiten Klasse. So erklärt er die Tatsache, dass er kein Wort Deutsch spricht. „Neudorf bei Hermannstadt in der Gemeinde Rothberg/Roşia war überwiegend von Sachsen bewohnt. Im Moment sind 80 Prozent der Bevölkerung Roma, nur zwei-drei Bewohner sind Sachsen“, erzählt der Künstler über die Ortschaft, wo er aufgewachsen ist.
Der Sonnenschein bricht an einem Winternachmittag durch das Fenster eines Bukarester Lokals am Ufer der Dâmbovi]a. Am anderen Ende des Tisches raucht der unruhige Künstler Tara von Neudorf eine Zigarette. Der in Luduş (Kreis Muresch) geborene Zeichner stammt aus einer multiethnischen Familie: Auch wenn seine Mutter Rumänin ist und sein Stiefvater ungarischer Abstammung ist, fühlte sich Tara schon immer mit den Siebenbürger Sachsen verbunden. Tara hat in Klausenburg/Cluj Malerei und Grafik an der Universität für Kunst und Design studiert, seine Ausstellungen wurden sowohl im In- als auch im Ausland, in Ländern wie Österreich, Deutschland, in den Niederlanden oder Ungarn, gezeigt. Ausgezeichnet wurde er u. a. mit einem österreichischen Preis Strabag Artaward.
Taras Werk wächst organisch: Angetrieben wird es von ungeheilten Wunden, seien sie nun persönliche oder kollektive. Diese konkretisieren sich in Kunstwerken – mit Hilfe eines Filzstiftes auf allerlei Materialien, von Pappe bis hin zu alten Landkarten. Verstörend wirken seine bekanntesten Illustrationen mit dem Sarg-Motiv und zahllosen schwarzen kleinen Kreuzen und Vögeln. Bekannt wurde er als Kartenzeichner einer finsteren Geschichte, als kompromissloser Geschichtslehrer, da er vorwiegend dunkle Aspekte der Geschichte zum Vorschein bringt. Der bildende Künstler setzt sich mit unangenehmen Themen wie Krieg, Politik, Korruption, Tod, mit Sexualität oder Religion auseinander. Eine ausländische Kuratorin, Monika Rydiger, die mit Tara zusammengearbeitet hat, erklärt die Komplexität seiner Kunst durch sein historisches Wissen und Bewusstsein und seine kompromisslose Haltung. Tara lebt und arbeitet in Hermannstadt. Siebenbürgen-bezogene Aspekte und die wechselvolle Geschichte dieses Gebiets verarbeitet er in seinen Werken.
Tief berührt war Tara als Jugendlicher, dass ein großer Teil der deutschen Minderheit Rumänien verlassen hat. Die bedauernswerte Auswanderung hat er als Zeuge wahrgenommen: „Ich erinnere mich an keine Konflikte, in denen die Sachsen mit eingeschlossen waren. Alle finden es schade, dass sie ausgewandert sind. Die Rumänen, die Ungarn und die Roma haben seit eh und je die Sachsen bewundert. Diese Bewunderung hat vielleicht die Grenzen der Wirklichkeit überwunden und wurde zur Idolatrie. Auch heute gibt es noch siebenbürgische Bauern, die die Sachsen auf eine gewisse Weise nach wie vor vergöttern“, fügt er hinzu.
Da die meisten Sachsen ausgewandert sind, hat der Künstler seine Aufmerksamkeit auf die materielle Hinterlassenschaft gerichtet: „Was uns bleibt, sind die Gebäude, die Architektur, die Kunstobjekte, die Trachten und die Musik“, erklärt er. Besonders wichtig findet der Künstler die Kirchen und Kirchenburgen. Tara spricht schnell und beißend, kritisiert messerscharf wie die angenähten Apollo-Rasierklingen auf den Schultern seines dunkelblauen Sakkos: „Sie sind unglaublich. Viele Kirchen sind jetzt Ruinen, sind verlassen und werden geplündert.“ Er ist aber nicht nur ein wortgewandter Mensch, sondern auch ein Mensch der Taten: Er spricht sich nicht bloß für die Pflege der sächsischen Kirchen aus, sondern legt selber Hand an.
Zeitgenössische Kunst in einem verlassenen Dorf in Siebenbürgen
„Die Geschichte der Siebenbürger Sachsen geht weiter“, meint er und erzählt über das Projekt in Engenthal/Mighindoala, das er vor ein paar Jahren begonnen hat und heuer beenden soll. „Für mich als Kunstschaffender sind die Kirchen sehr wichtig, ich kenne alle aus dem Kreis Hermannstadt und aus der Nähe. So habe ich Engelthal gefunden“, beginnt Tara die Geschichte über die Entdeckung der verlassenen Ortschaft Engenthal, die 45 Kilometer entfernt von Hermannstadt liegt und die er, wie manche andere, Engelthal nennt.
Tara hat sich vorgenommen, die alte evangelische Kirche in dem Geisterdorf zu renovieren, um die letzten Reste des kulturellen, geschichtlichen und geistlichen Erbes der Sachsen da zu bewahren. Die Kirche wird mit 101 Bildern ausgestattet werden, die die Geschichte der Sachsen dokumentieren. „Ich bin eigentlich keine religiöse Person, ich finde aber, es ist eine Abscheulichkeit, dass man diesen Ort verlässt. Die Kirche befindet sich in gutem Zustand im Vergleich zu der rumänischen Kirche“, erzählt Tara. Die orthodoxe Kirche im Dorf hat kein Dach mehr, Bäume wachsen aus den Ruinen empor. Auch dem Bolyai-Schloss im benachbarten Dorf Bell/Buia, geht es nicht besser – da stehen nur noch die Wände.
„Wollen wir uns mal die sächsischen Dörfer anschauen?“ Mit dieser Frage hat der Ausflug Taras zusammen mit seinem Bruder aus Klausenburg begonnen. Im Sommer des Jahres 2008 haben sie sich spontan entschieden, eine Fahrt mit dem Geländewagen durch die Dörfer Siebenbürgens zu unternehmen. Von Engenthal hatten sie von einem Österreicher, der in Hermannstadt wohnt, erfahren, er hat ihnen ein paar Fotos auf dem Handy gezeigt.
Tara erinnert sich, dass sie das verlassene Dorf nur schwer finden konnten: Das Dorf ist seit 40 Jahren nicht mehr bewohnt, der Weg durch den Wald ist schwierig. Außerdem hatten die beiden Reisenden nur grobe Hinweise von den Bauern in der Nähe bekommen und mussten wegen eines heftigen Sturms unter einer Brücke Schutz suchen. Als sie das Dorf endlich erreichten, war das, was sie zu sehen bekamen, sehr düster: Die Tür der evangelischen Kirche stand offen, drinnen schliefen Schafe. Der Hirte kam erst später.
Vier Jahre nach dieser Entdeckung gibt es in Engenthal zwei Bewohner: Vali, ein Hirte, der das Dorf verlassen will, da er das Leben da nicht mehr ertragen kann, und Tara, der sich ein altes Haus gekauft hat, das er zu sanieren beabsichtigt. „Man muss unnachgiebig sein, sonst wird man von diesem Platz geschluckt“, meint Tara. Das Haus des Hirten möchte der Künstler kaufen und abbauen, um die Baumaterialien für die Renovierung des örtlichen evangelischen Pfarrhauses und des Gemeindehauses zu verwenden. Das Projekt hat das Mediascher Konsistorium der Evangelischen Kirche A.B. genehmigt. „Die Hälfte aller Malereien ist fertig und die offizielle Eröffnung soll im September nach einer 40-jähriger Pause stattfinden“, macht der Künstler deutlich. „Ich werde wahrscheinlich der einzige Bewohner des Dorfes sein. Es gibt noch einen anderen aus Bukarest, aber er kommt nur manchmal“, erläutert er. Mit seiner Familie hatte der Künstler Streit deswegen. Die Verwandten sind der Meinung, dass das Projekt, das von Tara aus seinen eigenen finanziellen Mitteln ausgeführt wird, absurd ist. „Ich mache das auch, damit Gott meine Sünde verzeiht“, gesteht er.
Eine einzigartige Sehenswürdigkeit
Für die Darstellungen der siebenbürgisch-sächsischen Geschichte auf den Wänden der Kirche in Engenthal hatte Tara die Wandmalereien in der Kirche aus Malmkrog/Mălâncrav als Modell. Wiedergeben möchte Tara chronologische Episoden von der Kolonisation bis zur Auswanderung, die jüngsten Ereignisse werden neben dem Altar geschildert. „Es ist keine romantische oder rosarote Geschichte, geschildert werden nicht nur die positiven Ereignisse“, erklärt er. „Es wird sicherlich nicht unumstritten sein, aber das interessiert mich nicht. Ich habe in dieses Projekt investiert. Wenn die Menschen kritisieren wollen, dann sollten sie selbst etwas machen. Haben sie Geld oder Mut, da in der Wildnis zu bleiben und etwas zu verändern?“ verteidigt der bildende Künstler sein Werk. Recherchiert hat er in Geschichtsbüchern, er hat mit rumänischen, sächsischen und ungarischen Priestern gesprochen, die immer wieder eine oder die andere Seite der Geschichte erzählen konnten: „Die Verhältnisse zwischen Rumänen, Ungarn und Sachsen in Siebenbürgen waren nicht immer reibungslos“, erklärt er.
Die Kirche wird eine einzigartige Sehenswürdigkeit sein und Tara ist überzeugt, dass die Menschen nach Engenthal kommen werden, um seine Wandmalereien zu sehen. Übrigens können die 101 Tafeln, die die Wände der Kirche bedecken, entfernt werden: „Es ist ein Denkmal, die Landschaft ist wunderbar, die Kirche ist verlassen, ihre Geschichte ist traurig und scheint irreal. So wie die Kirche jetzt ist, sieht sie wie ein Rumpf aus. Ich verwandele sie in ein Kunstwerk. Das demontierte Innere der Kirche möchte ich auch im Bukarester Museum für zeitgenössische Kunst zeigen. Ich werde diese Tafeln auf verschiedenen Ausstellungen durch die ganze Welt mitnehmen“, erklärt der Künstler seine Pläne. Auch möchte Tara den Dachboden der Kirche in ein Studio und den Kirchturm in eine Bibliothek verwandeln. Auf der Liste seiner Pläne steht auch die Sanierung des alten evangelischen Friedhofs.
Rundherum gibt es viele Wälder, Engenthal ist völlig isoliert. Ein Haus da ist billig, der Konzessionvertrag hat nichts gekostet. Solche Projekte sind nicht zu kostspielig und man kann sogar europäische Gelder dafür fordern. Außerdem ist dieser Ort auch nicht sehr weit von Hermannstadt entfernt: Das sind die Argumente, mit denen Tara seine Entscheidung begründet, Bewohner dieses Geisterdorfes zu werden. Immerhin wünscht er sich, dass auch andere die Initiative ergreifen und dasselbe für andere Kirchen machen. „Wenn ich es mir leisten könnte, würde ich dasselbe mit wenigstens drei anderen Kirchen machen“, erklärt Tara von Neudorf. „Es ist eine Schande. Es gibt so viele Kirchen und sonstige historische Bauten, die zusammengestürzt sind“.