Das Zimmer im Parterre des Blumenauer Altenheims ist abgedunkelt. An den Fenstern sind Vorhänge angebracht. Vielleicht ist die Sonne, auch jetzt im September zu stark, vielleicht soll der Verkehrslärm in der Bahngasse nicht stören.
Hermann Boltres freut sich über den Besuch. Von Heimleiter Ortwin Hellmann wusste er, dass jemand „von der Zeitung“ kommen wird. Und darauf hat er sich eingestellt: Briefumschläge mit alten und neueren Fotos liegen bereit; Zeitungsausschnitte sind auf dem Bett ausgebreitet. Alles, was er sage, könne er auch beweisen, versichert Hermann Boltres. Der 1932 geborene Neustädter lebt seit dem Tod seiner Ehefrau, seit gut fünf Jahren, im Altenheim. Ihm gefalle es hier. Für die Senioren wird immer wieder was im Heim angeboten und unternommen. Er zum Beispiel singe noch immer gern und genieße es, wenn er das zusammen mit anderen tun kann.
Jahrzehntelang hat er in der Neustädter Kapelle Trompete geblasen. Manchmal wurde er gerufen, bei Ständchen mitzuspielen; andere Male wurden gemeinsam Ausflüge unternommen, z. B. zum Königstein, zur Curmătura-Hütte.
Die Erinnerungen sind eine Zeitreise, verbunden mit viele Namen. Dabei kommen Emotionen hoch, ja sogar Wünsche werden wach. Gern würde Hermann nochmals nach Brenndorf fahren. Dort würde er zur Kaserne gehen und nachsehen, ob das dritte Fenster im Erdgeschoss noch dasteht, so wie vor gut 70 Jahren. Denn damals, so erzählt er heute, hat er dort, zusammen mit anderen Jugendlichen aus Neustadt und weiteren Burzenländer Gemeinden, von Frühjahr bis Herbst in einem Arbeitslager verbringen müssen. Er war Mitglied der „Brigade“, die einen Kanal von der Zuckerfabrik bis zum Alt graben musste. Alles mit denkbar einfachen Mitteln: ein Pflug gab vor, wo die Erde ausgehoben werden sollte und der damals 15-Jährige und seine Genossen hatten diese Arbeit zu verrichten. An einem Abend merkte Hermann, dass er seinen Kopf zwischen die Gitterstäbe zwängen konnte. Geht der Kopf durch, so kann auch der Körper folgen, hatte er von seinem Großvater mitbekommen. Und nun probierte Hermann diese Weisheit aus. Es klappte. Zusammen mit Hermann Dold flüchteten sie in jener Nacht bis nach Neustadt; kehrten jedoch bis zum Morgenappell zurück. Denn wären sie abwesend gemeldet worden, so hätte es eine Menge Unannehmlichkeiten geben können, einschließlich einer Tracht Prügel. Von den damals in Brenndorf in äußerst ärmlichen Bedingungen Untergebrachten erwähnt Hermann zwei Namen: Horst Schoppel und Ernst Kraus aus Zeiden, der später ein bekannter Schauspieler werden sollte. Den Kanal soll es auch heute noch geben, hat Hermann von Brenndörfern versichert bekommen.
Einige Jahre später folgte der Militärdienst. Der führte Hermann zur Donau, nahe von Brăila. Drei lange Jahre hat er dort verbracht. Auf einem vergilbten Foto ist er am Steuer eines mächtigen russischen Lkw zu sehen. Groß muss die Freude gewesen sein, endlich 1955 kurz vor Weihnachten vom Wehrdienst losgesprochen zu sein! Da zählte es auch nicht viel, dass er in verschlissener Soldatenuniform zu Hause erscheinen musste. So war das damals, sagt Boltres, man wurde in der Uniform entlassen und erhielt dabei auch einen Sack mit der Postanschrift der Einheit, an die man binnen zehn Tage die Uniform zurücksenden musste. Nach Jahren sollte es ein überraschendes Wiedersehen mit einem der damaligen jungen Leutnants aus Brăila in einer Kronstädter Straße geben. „Erinnerst du dich noch, an die Zeit, als wir Wasser aus der Donau tranken?“
In Neustadt arbeitete Hermann Boltres als Mechaniker bei der LPG. In den endsechziger Jahren, als es hieß, die „mitwohnenden Nationalitäten“ sollten ihre Traditionen pflegen dürfen, wagte Boltres, praktisch im Alleingang, in diesem Sinne einen Vorstoß. Er umging sämtliche Wächter und Sekretäre beim Sitz des RKP-Kreiskomitees und sprach direkt den damaligen Kronstädter Ersten Sekretär (Gheorghe Pană) an, ob das Faschingsrad in Neustadt beim Fasching auftauchen könne. In der Hosentasche hatte er einen Zeitungsausschnitt mit Ceau{escus Aussagen zur Kulturpflege der nationalen Minderheiten zur Hand, falls der Kronstädter Parteichef Bedenken geäußert hätte. Das war nicht der Fall und so kümmerte sich Boltres selber um das Anfertigen des Wagenrades, auf das dann die Puppen gesetzt wurden die sich, von den Kindern gezogen, beim Faschingsumzug im Kreis drehten. Auch heute erinnert er sich gern und mit einem gewissen Stolz an seine Initiative.
Damals waren es schon bessere Zeiten gewesen. Aber noch rund zehn Jahre zuvor, daran könne er sich noch sehr gut erinnern, herrschte Bestürzung und Verunsicherung, als die Neustädter von Herta Hermannstädter erfuhren, dass in Kronstadt Stadtpfarrer Konrad Möckel verhaftet wurde. Boltres‘ Altersgenossen Günther Hergetz und Michael Farsch, so hieß es, sollten als nächste vernommen werden.
Haus und Hof von Hermann Boltres in Neustadt sind verkauft worden. Dorthin gibt es kein Zurück mehr; Deutschland ist fern – als er dorthin auswandern konnte, hat er das, seiner Frau zuliebe, unterlassen. Im Altenheimzimmer sind Fotos der Enkelkinder an der Wand zu sehen; auf dem Tisch steht das Foto seines besten, inzwi-schen leider verstorbenen Freundes Werner Zerelles. In einem Nachbarzimmer wohnt ein anderer, etwas älterer Neustädter, Heinrich Kasper (90). Als Neustädter halten sie zusammen, sagt Boltres und beginnt seine Fotos und Papiere einzusammeln.