Vor zwei Jahren entschloss sich die Evangelische Kirchengemeinde Sächsisch-Regen/Reghin, ihr Archiv dem Zentralarchiv der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien zu übergeben. Im Hermannstädter Teutsch-Haus, wie das Gebäude des Archivs im Volksmund heißt, lagern die Bestände nun unter guten Bedingungen und sollen dort in Zukunft für die Forschung zugänglich gemacht werden. Die dazugehörigen Musikalien – ein ganzer Schrank voller Noten – musste aus Platzmangel zunächst in Sächsisch-Regen zurückbleiben. Im Herbst vorigen Jahres brachte Pfarrer Johann Zey den Inhalt dieses Schrankes, sechs prall gefüllte Bananenkisten, in das Büro des landeskirchlichen Musikwartes. Nach einer mehrwöchigen Puzzle-Arbeit ist es nun so weit, dass man weiß, was von der Musikbibliothek der evangelischen Gemeinde aus Sächsisch-Regen heute noch vorhanden ist. Aus der Bestandsaufnahme lässt sich einiges über das Musikleben der Gemeinde Sächsisch-Regen herauslesen.
Verglichen mit den „Musiktheken“ (so der originale Begriff) anderer evangelischer Kirchengemeinden aus Siebenbürgen kann man sagen, dass die Sächsisch-Regener Musikbibliothek die Jahrzehnte, in denen sie nicht mehr benützt wurde, verhältnismäßig gut überstanden hat. Einzig ein Stoß mit scheinbar nicht zueinander gehörenden Einzelstimmen war zusammengebunden und mit der Bezeichnung „Alter Kram“ versehen.
Zunächst tritt uns eine ganze Folge von Kantoren entgegen, die das musikalische Leben der Gemeinde im 19. Jahrhundert geprägt haben. Das Kantorenamt muss in Sächsisch-Regen sehr geachtet und daher auch sehr begehrt gewesen sein, denn seine Inhaber werden nicht müde, auf die von ihnen geschriebenen Noten und auf die Umschlagseiten der Stimmsätze immer wieder ihren Namen und dazu den vollen Titel zu schreiben, nämlich „Stadt-Cantor in Sächsisch Regen“ oder eben in „Szász Régen“. Oft erfahren wir das Jahr, manchmal sogar den Tag der Abschrift: z. B. „1883 am Susannatag“. Daraus geht auch hervor, wann das betreffende Werk zum ersten Mal aufgeführt wurde.
Alle Kantoren waren im Hauptberuf Volksschullehrer. Manchmal unterschreiben sie auf den Notenblättern auch als solche: „Carl Dietrich, Elementarlehrer“ oder „Carl Dietrich, Lehrer und Stadt-Cantor in S. Regen im Juli“ (1880). Als Lehrer, die die Kinder u. a. auch im Schönschreiben unterrichteten, hatten sie fast durchwegs eine gestochene Handschrift, die im Noten- wie im Textschreiben gleichermaßen geübt war. Es ist fast so, als würde man dem Herrn Stadt-Cantor Carl Dietrich die Freude anmerken, mit der er seine Noten schrieb. Auf eine Tenorstimme zu Beethovens Cantate „Jehova, deinem Namen sei Ehre, Macht und Ruhm“ unterschrieb er nach dem letzten „Amen“ in besonders schwungvoller Weise:
Carl Dietrich
Stadt Cantor
Jänner 1881
Prosit Neujahr!
Hatte er vielleicht gerade einen edlen Tropfen getrunken oder freute er sich einfach auf die nächste Probe, in der er diese Musik von Beethoven einstudieren wollte?
Manchmal allerdings nimmt die gleiche Handschrift auch unruhige Züge an. Vermutlich stand der gleiche Carl Dietrich mit dem Abschreiben der Noten gerade unter Zeitdruck! Einen Vervielfältigungsapparat gab es nicht und gedruckte Noten konnte man sich selten leisten! So blieb den Kantoren der damaligen Zeit nichts anderes übrig, als sehr, sehr fleißig zu sein. Und sie waren es: Die Menge an handgeschriebenem Aufführungsmaterial im Sächsisch-Regener Musikarchiv ist ein beredter Beweis dafür.
Wenn ein Lehrer aus dem Dienst schied oder starb, wurden seine handgeschriebenen Stimmsätze von einem anderen Lehrer übernommen, so wie auch gutes Werkzeug von einem Handwerker auf den anderen überging. Diese Stimmsätze waren für Lehrer wohl auch eine Voraussetzung dafür, einmal den besser dotierten Kantorenposten zu erhalten.
Besitzvermerke auf den Umschlagseiten verraten uns, wie sorgfältig Noten aufbewahrt und weitergereicht wurden. Georg Kirschner war 1862 „Cantor in Radlen“, bevor er nach Sächsisch-Regen berufen wurde. Aus Radeln brachte er den Chor „Liebet eure Feinde, hasset nie!“ von Johann Rudolf Zumsteeg mit. Dieser Stimmsatz, ursprünglich von Andreas Seiwert, „Cantor in Stein“, erstellt, ging 1834 in den Besitz von Michael Groß, „Mädchenlehrer in Meeburg“ über. Aus Meeburg „wanderte“ der Stimmsatz 1863 ein zweites Mal „über das Rech“ in die Nachbargemeinde Radeln zu Georg Kirschner. Später erhielt derselbe Stimmsatz in der „Musiktheke“ von Sächsisch-Regen, vermutlich durch einen Nachfolger Kirschners, die Signatur B 124. Die vorläufig letzte Station der Noten ist nun das Hermannstädter Zentralarchiv.
Am 24. Juni 1869 war für Georg Kirschner, Stadt-Cantor von Sächsisch-Regen, ein großer Tag: Er durfte – vielleicht in Hermannstadt, vielleicht in Wien? – sieben Partituren zu geistlichen Werken von Wolfgang Amadeus Mozart einkaufen. Auf den Titelseiten aller Partituren vermerkte er mit sichtbarem Stolz:
„Eigenthum der ev. Kirche. Angekauft aus der Kirchen Cassa 24. Juni 1869 durch Georg Kirschner Stadt Cantor S. Regen“.
Außer den „Stadt-Cantoren“ tritt uns aus dem Sächsisch-Regener Musikarchiv auch der „Stadt-Organist“ Joseph Gunesch entgegen. Er steht noch in der Tradition der komponierenden Kirchenmusiker. Von seinen Kompositionen haben sich zwei Chöre mit Orchesterbegleitung, ein Duett für zwei Solostimmen und Orgel sowie mehrere Ausformungen des Sanctus erhalten. Ein Orgelchoral („Ein feste Burg ist unser Gott“) mit Zwischenspielen trägt ebenfalls seinen Namen.
Wir erfahren aus der Bestandsaufnahme auch, welche Musik im 19. Jahrhundert in Sächsisch-Regen mit Vorliebe gepflegt wurde: die Klassiker Mozart und Haydn. Es folgen Komponisten, über die man sich heute nur noch im Lexikon informieren kann: Johann Rudolf Zumsteeg oder Johann Baptist Schiedermayer. Manche Namen hingegen sind heute völlig unbekannt: Wilhelm Adolf Müller, „Cantor zu Borna“, der auch in anderen siebenbürgischen Gemeinden sehr gerne aufgeführt wurde, ist aus der Musikgeschichte verschwunden!
Die Werke Mozarts und Haydns wurden in Sächsisch-Regen durchwegs mit unterlegten deutschen Texten gesungen. Es bestand offenbar eine große Nachfrage nach dieser Musik, nicht aber nach den kanonischen Texten der katholischen Kirche. Dieser Nachfrage haben auch große Verlage wie Breitkopf & Härtel in Leipzig entsprochen, indem sie den Werken der Klassiker deutsche Text unterlegten und dabei oft auch Teile aus verschiedenen Werken eines Komponisten zu einer evangelisch anmutenden „Kantate“ zusammenlegten. Das Musikarchiv aus Sächsisch-Regen belegt, dass diese Praxis auch in Siebenbürgen gepflegt wurde. So hat Georg Kirschner 1873 das ganze Aufführungsmaterial zu Joseph Haydns „Missa Cellensis. In honorem Beatissimae Virginis Mariae“ (im Volksmund „Cäcilienmesse“) abgeschrieben. Auf der Umschlagseite dieser Noten steht in der Handschrift Kirschners:
„Mit deutschem Texte von ev. Pfarrer Christ. Fuß
unterlegt von Mich. Theil Stadtcantor in Hermannstadt.“.
Christian Fuß war bis 1830 Prediger in Hermannstadt, Michael Theil von 1827 bis 1860 Kantor daselbst. Der Theologe hat den deutschen Text verfasst, wobei der Musiker ihn auf die Musik von Haydn angepasst hat.
Zu einer gewöhnlichen Orchesterbesetzung gehörten Violino I und Violino II, „Alt Viol“, 2 Clarinetten und 2 Corni, dazu der bezifferte Bass, der von der Orgel ausgeführt wurde. Nicht nur in Sächsisch-Regen, sondern auch in den meisten Landgemeinden gab es zu der Zeit Menschen, die diese Instrumente spielen konnten. Zu dieser Grundausstattung kamen dann, vor allem bei Werken von Mozart, noch Flöten, Oboen, Fagotte, Trompeten und Pauken dazu. Bei besonders festlichen Anlässen mussten auch Posaune, Bombardon und Helikon antreten.
Abschließend ein Wort zum Notenstoß mit der Bezeichnung „Alter Kram“: Aus den Erinnerungen des Schweischerer Lehrers Johann Schuster an seinen Großvater, den Organisten Michael Schuster (1804-1895) wissen wir, dass letzterer 1875 eine Reise nach Nordsiebenbürgen unternahm. In Senndorf fiel ihm auf, dass „der Organist Johann Graef der einzige in der Umgegend (war), welcher sich auf den Generalbass verstand, denn er hatte seine Organisten-Studien im Niederlande (also in Süd-Siebenbürgen) gemacht, wo jeder Orgelspieler mit diesem Bekanntschaft machen muss“. Für Ungeübte musste eine bezifferte Bassstimme erst „ausgesetzt“, d. h. mit Akkorden versehen werden. Der „Alte Kram“ war nichts anderes als eine Sammlung solcher Orgelstimmen, welche die Kantoren parallel zu den Generalbass-Stimmen der verschiedenen Werke angelegt hatten. Auf den ersten Blick handelte es sich um nicht zusammengehörende Einzelstimmen in verschiedenen Handschriften. Tatsächlich aber hat sich hier das praktische Aufführungsmaterial der Kantoren erhalten.
Die Sammlung aus Sächsisch-Regen scheint bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine „lebendige“ Bibliothek gewesen zu sein. Sie vermittelt den Eindruck eines regen musikalischen Lebens in der siebenbürgischen Kleinstadt, in der Rudolf Wagner 1903 geboren wurde, der Komponist, der später als Rudolf Wagner-Régeny in Deutschland Karriere machte.
Der Inhalt von acht Kartons mit Noten aus Sächsisch-Regen, nun im Hermannstädter Zentralarchiv gelagert, wirft noch manche Fragen auf. Für Musikforscher könnte er eine wahre Fundgrube sein!