„Waste your time“ – so hat Yvonne Büdenhölzer, die neue Leiterin des Berliner Theatertreffens, ihr einführendes Wort zum diesjährigen Festival betitelt. Das beunruhigte mich ein wenig, doch die Übersetzung am Ende klang schon besser: „Nehmen Sie sich Zeit!“ Also gut, das tue ich seit etlichen Jahren: Ich nehme mir immer wieder Zeit, einige der zehn aus dem deutschsprachigen Raum ausgewählten Aufführungen des Festivals zu besuchen, das jeden Mai in Berlin stattfindet.
Das bisherige Team – der Diplomat, Dichter und Verleger Joachim Sartorius als Generaldirektor der Berliner Festspiele und Iris Laufenberg als Leiterin des Theatertreffens (jetzt zur Schauspieldirektorin am Konzert Theater Bern ernannt) – war mehr als ein Jahrzehnt verdienstvoll tätig.
Verständlicherweise gab es auch Proteste, denn wenn es gilt, immer nur zehn Aufführungen der gesamten Theaterproduktion des Vorjahrs als „bemerkenswerteste“ auszuwählen, so sind Kritiken einfach unvermeidlich. Wenn berechtigt, wurden diese nicht überhört: Das Festival 2011 berücksichtigte z. B. weniger wie bis dahin das Theater der Großstädte und richtete seine Aufmerksamkeit mehr auf kleinere Theater und auf alternative Theatergruppen (keine schlechte Entscheidung übrigens, wie es damals auch die ausgezeichnete Aufführung „Testament“ des Performance-Kollektivs She She Pop bewies). Eine Tendenz, der auch die diesjährige Jury des Festivals gefolgt zu sein scheint.
„Kill your Darlings! Streets of Berladelphia“, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (Dauer: ca. 90 Minuten ohne Pause) ist eine überaus witzige und gescheite Aufführung des Regisseurs René Pollesch, der auch den Text dazu schrieb. Pollesch dürfte hierzulande bekannt sein: 2008 wurde auf dem Babelfast-Festival in Târgovişte sein Stück „Diktatorengattinnen“ aufgeführt (die Rolle von Elena Ceauşescu wurde an der Volksbühne Berlin von Sophie Rois gespielt, die beim jetzigen Theatertreffen den mit 20.000 Euro dotierten Theaterpreis Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung erhielt).
„Kill your Darlings!...“ ermöglicht Fabian Hinrichs, mit dem Pollesch bisher schon mehrmals zusammengearbeitet hat, ein hinreißendes Solo. Doch bestreitet er den Theaterabend nicht allein, auf der Bühne agiert auch ein stummer „Chor“ von 15 Akrobaten, der „den Kapitalismus repräsentiert“. Erstaunlich am großen Publikumserfolg dieser Aufführung scheint zunächst, dass Pollesch seinen Text in Agitprop- oder „Lehrstück“-Manier und scheinbar (aber eben nur scheinbar) als vehemente Kapitalismuskritik konzipiert hat: Es werden Brechts Fatzer und „Lob des Kommunismus“ zitiert und der Karren hinten auf der Bühne erinnert zweifelsohne an den Marketenderwagen von Mutter Courage.
Der Protagonist Hinrichs spielt den zerrissenen Individualisten auf der Suche nach einem Kollektiv, der jedoch im Chor kein solches sieht, sondern schlechthin das Böse selbst (eben den Kapitalismus): „Ich würde mit einem Haufen Leute ins Bett gehen, wenn’s nur ein Kollektiv wäre – ihr aber seid nur ein Netzwerk!“ – „Ich habe Nahweltbedarf! Aber ich möchte auch nicht in einer Nahwelt vor mich vegetieren.“ – „Die paar Tage, die ich mit dir verbracht, das war echt langweilig, ich bin schön drauf reingefallen: Du bist ein Netzwerk, du bist zu viele... ich will das nicht, es reicht mir nicht.“ Und agitatorisch ans Publikum gewendet: „Aber das wollt ihr auch nicht, das reicht euch auch nicht!“
Das ist eine ganz schön verrückte, brillante Komödie, in der es nicht um Brecht und Kapitalismuskritik geht, sondern um Einsamkeit und das verzweifelte Bedürfnis nach Liebe. Und um ein klein bisschen Nostalgie nach den guten alten Zeiten: „Warum bringt sich heute niemand mehr aus Liebe um?! Früher hat man’s noch getan!“ Die Zuschauer klatschten begeistert Beifall und Fabian Hinrichs erhielt für diese Rolle den Alfred-Kerr-Preis für die beste Leistung eines jungen Schauspielers beim diesjährigen Festival.
„Faust I + II“ ist eine Mega-Aufführung des Thalia Theaters Hamburg und der Salzburger Festspiele (Regie: Nicolas Steman; Bühne: Thomas Dreißigacker, Nicolas Steman; Dauer: ca. achteinhalb Stunden, drei Pausen).
Nicht viele Regisseure haben sich bisher am kompletten Faust versucht, Goethe selber glaubte wohl kaum an die Aufführbarkeit seiner rund 12.000 Verse. Gustaf Gründgens inszenierte 1957 und 1958 in Hamburg den ersten bzw. den zweiten Teil davon (mit sich selbst als Mephisto – man erinnere sich auch an den Schlüsselroman von Klaus Mann); über vierzig Jahre später tat es dann auch Peter Stein bei der Expo 2000 in Hannover mit Bruno Ganz in der Titelrolle – Steman urteilt darüber: „Konventionelles Theater mit einem unkonventionellen Text.“
Und jetzt Nicolas Steman, bei dem nur sechs Schauspieler (im ersten Teil drei: Sebastian Rudolph, Philipp Hochmair und Patrycia Ziolkowska; zu diesen treten im zweiten Teil noch drei hinzu: Barbara Nüsse, Birte Schnöink, Josef Ostendorf; allesamt ausgezeichnet) die über 200 Rollen des „Faust“ bestreiten. Steman hatte schon seine Erfahrungen in der Arbeit mit „Textkonglomeraten“, er hat mehrere durchaus unbequeme Stücke von Elfriede Jelinek inszeniert, darunter „Das Werk“ und „Die Kontrakte des Kaufmanns“ – beide Aufführungen wurden zum Berliner TT 2004 bzw. 2010 eingeladen. Eine gewisse Ähnlichkeit dieser Autorin zu Goethe war ihm von Anfang an klar: „Beiden gemeinsam ist der Überfluss an Text und Ideen.“ In Wirklichkeit jedoch sind die Figuren bei Goethe viel differenzierter. Andererseits las der Regisseur den „Faust“ als eine Reihe von Monologen gespaltener Personen – aus Faust z. B. spricht bisweilen mal Mephisto, mal Gretchen...
Steman hat den ganzen Text auf die Bühne gebracht, kein Vers wurde dabei ausgelassen; ganz im Gegenteil hat er noch Text hinzugefügt, indem er spielerisch auch Goethe und sogar den Regisseur als Personen auftreten lässt (wobei Steman sich selbst spielt). Letzterer wendet sich in leicht schulmeisterlichem Ton an das Publikum, um dieses über die Absichten des Autors wie auch des Regisseurs aufzuklären; oder er doziert über die (gegenwärtige!) ökonomische Krise; oder erteilt den Zuschauern gutgemeinte Ratschläge: „Man muss nicht immer alles an einem Text verstehen wollen!“
Im ersten Teil ist die Bühne fast vollkommen leer, Faust und Mephisto, modern gekleidet, tauschen immer wieder fast unmerklich ihre Rollen untereinander und überschütten dabei den Zuschauer mit einer Unmenge an Versen. Aber niemand im Publikum ist gelangweilt, was man hier sieht und hört ist richtiges Theater, dargeboten mit Sprechkunst und Spaß, zudem Video und Filmprojektionen, Musik live, Puppenspieler, einem Tänzer und manchem mehr. Und mit einer Reihe von reizvollen Einfällen: Faust erfindet das Papiergeld und bezwingt so die Weltwirtschaftskrise, wobei an den Saalwänden das Bild eines 1-Dollar-Scheins erscheint – mit Goethes Porträt drauf.
Beim diesjährigen Theaterfestival erhielt Nicolas Stemann für „Faust I + II“ den mit 10.000 Euro dotierten 3sat-Preis von ZDF, ORF, SF und ARD. Die Jury begründete wie folgt die Entscheidung: „Gedankenscharf... eröffnet die Inszenierung ungeahnte Perspektiven auf Goethes Text. Eine spielerische und intellektuelle Freude!“