Augenscheinlich hat die junge Schriftstellerin Iris Wolff in Bukarest leichtes Spiel, ihr Publikum zu begeistern an diesem Samstagnachmittag, dem 3. März 2018, im Goethe-Institut. Dies sei zwar ihre erste Lesung in Bukarest, wie die als Chefredakteurin der Deutschen Sendung (TVR) bekannte Journalistin Christel Ungar-Țopescu, die die Veranstaltung souverän moderiert, mehrfach erfreut feststellte. Aber sie sei in Rumänien ja längst keine Unbekannte, durch ihren Debüt-Roman „Halber Stein“ habe sie kürzlich in Siebenbürgen und vor allem in Hermannstadt Furore gemacht. Nicht zuletzt wurde ihr hierfür 2014 der Ernst-Habermann-Preis verliehen. Die zahlreich erschienenen Zuhörer belegen, dass Iris Wolff auch in Bukarest auf ein interessiertes Publikum zählen kann.
Nach einigen einleitenden Worten durch die „Hausherrin“, die Leiterin der Bibliothek des Goethe-Instituts Susanne Teichmann, die es auch nicht versäumt, auf das Interview mit Iris Wolff auf dem Literatur-Blog DLITE des Goethe-Instituts hinzuweisen, erläutert Ungar-Țopescu, warum die in Deutschland lebende gebürtige Hermannstädterin zu dieser Lesereise vom Kulturforum Österreich, vertreten durch den Leiter Thomas Kloiber, eingeladen wurde. Denn mit ihren Büchern, neben „Halber Stein“, noch „Leuchtende Schatten“ (2015), das die Deportation und Enteignung der Siebenbürger Sachsen nach dem Zweiten Weltkrieg thematisiert, und nun, bereits nach einem Jahr in vierter Auflage, „So tun, als ob es regnet“ (2017), ist sie beim salzburgischen Otto Müller Verlag beheimatet. Diesmal führt sie ihre Reise im Bogen durch ganz Rumänien, von Bukarest über Fogarasch, Hermannstadt, Klausenburg nach Temeswar. Denn einen Teil ihrer Jugend – ihr Vater war evangelischer Pfarrer in Semlak – hat sie auch im Banat verbracht. Wie so viele ihrer Landsleute, referiert Ungar-}opescu, wanderte sie mit ihrer Familie 1985, im Alter von acht Jahren, nach Deutschland aus, studierte später in Marburg Germanistik, Religionswissenschaft, Grafik und Malerei und arbeitete u. a. am Literaturarchiv in Marbach. Zur Unterstützung ihrer schriftstellerischen Tätigkeit erhielt sie bereits zweimal, zuletzt in diesem Jahr, ein Stipendium des Landes Baden-Württemberg.
„Wenn man erinnert, kann man nicht verlieren“
Im Goethe-Institut liest sie einige Auszüge aus ihrem Debüt-Werk „Halber Stein“, der Geschichte, die von einer jungen Frau Sine handelt, die zusammen mit ihrem Vater zum ersten Mal nach der Auswanderung vor 20 Jahren wieder in das Dorf ihrer kürzlich verstorbenen Großmutter kommt.
Nicht unbedingt rein autobiografisch, merkt Wolff an, denn sie selbst hat bereits viel früher Siebenbürgen wieder besucht. Überhaupt flicht sie an anderer Stelle ein, dass es für den Autor immer wieder schwierig ist, dem Leser klar zu machen, dass es sich, auch wenn es in einer Welt spielt, die es tatsächlich gibt, bei den Geschichten doch immer um Erfundenes handele. Dennoch recherchiere sie gerne die geschichtlichen Fakten so genau wie möglich, bevorzugt im Archiv ihres Vaters, der eine umfangreiche Sammlung auch von Karten und alten Postkarten besäße. Aber natürlich würde sie, sofern sie dafür Zeit fände, in den Archiven in Gundelsheim oder dem Archiv der Universität München recherchieren, da für sie die Beschäftigung mit authentischem Material immer spannend sei.
Der titelgebende „Halbe Stein“ bezieht sich auf ein Naturdenkmal aus der Kreidezeit im Silberbachtal bei Michelsberg, aber für die Hauptfigur Sine ist dies ein Gedächtnisort. Laut Ungar-Țopescu, schreibt Wolff so, als ob sie malen möchte, so bildhaft gelingt ihr die Beschreibung jeden Details. Und wie sie selber im Gespräch bemerkt, möchte sie dem Leser die Welt vor Augen führen, in der ihre Figuren leben. Aber das deutsche Publikum kennt Siebenbürgen nicht, darum muss sie ganz genau beschreiben, wie das Licht ist oder die Straßen aussehen. Natürlich müsse sie auch immer darauf achten, die Leser nicht mit zu vielen Details zu quälen.
Insgesamt gibt es in „Halber Stein“ drei Erzählebenen: Zunächst die Hauptfigur Sine, die ihren verlorenen Erinnerungen nachgeht an die Zeit in Rumänien, die Auswanderung und die Zeit danach. Dann die Geschichte der Großmutter, deren Spuren sie im Haus zu finden hofft, und schließlich die Auswanderung der Siebenbürger Sachsen und warum sie damals gegangen sind. Ein Kapitel beendet Wolff bei ihrer Lesung mit dem tröstlichen Satz: „Wenn man erinnert, kann man nicht verlieren.“ Kindheitserinnerungen, der Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, die Frage nach dem, was Heimat bedeutet, sind somit ihre Themen.
Was Ungar-Țopescu zu der Frage führt, was Heimat denn für sie bedeute. Ein bedeutendes Motiv ihrer Romane, bestätigt Wolff, denn ihre Protagonisten schickt sie in ihren Büchern immer auf die Suche nach dem Ort, wo sie zuhause sind. Allerdings wäre es immer gut, so viele Heimaten wie möglich zu haben. Deshalb gäbe es auch ganz verschiedene Antworten, manchmal seien es Träume oder Bücher, für andere bedeute Heimat, allein und ganz bei sich zu sein. Und eine gewachsene Erkenntnis der letzten Jahre sei, die Freiheit zu besitzen, einen Ort im Inneren zu suchen. In ihren Büchern möchte sie die Wahrnehmung von der Welt erweitern, keine Wahrheiten verkünden, sondern dem Leser die Möglichkeit geben, durch die Augen eines anderen Menschen zu blicken. Das sei für sie eine gute Geschichte.
Wie viel von ihrer Geschichte von Anfang an feststehe, möchte Ungar-Țopescu, noch wissen. Die Figur der Sine habe sie sehr klar vor Augen gesehen, die Großmutter auch. Aber beim Schreiben ließe man sich auch auf eine unbewusste Ebene ein, und dann spielt der Zufall einem in die Hand. Wenn zum Beispiel jemand beim Abendbrottisch etwas erzählt, oder jemand beschäftigt sich mit der Bienenzucht, dann denkt man, wäre das nicht etwas für eine Figur – so schreibt der Zufall und alle, die man kennt, schreiben mit.
Vier Erzählungen – ein Roman
Der Titel „So tun, als ob es regnet“ klingt für deutsche Ohren sicher schön, aber man weiß nicht, was man damit anfangen soll, bemerkt Ungar-Țopescu. Für jemanden von hier ist es ziemlich klar, dass es sich um die rumänische Redewendung „se face că plouă“ handelt. Der andere rede und man kriegt nichts mit. Zur Wahl ihres ungewöhnlichen Titels befragt, gesteht Wolff, ja, ihr Rumänisch sei leider eher passiver Natur, aber rumänische Sprichwörter hat man in ihrer Familie beibehalten. Auch wenn viele sagten, sie verbinden etwas anderes als sie mit diesem Spruch, bedeute er für sie, „Oh, wie schön es gibt die Möglichkeit eines inneren Rückzugs.“
Aber nicht nur der Titel ist ungewöhnlich, leitet Ungar-Țopescu ihre nächste Frage ein, denn hier handelt es sich um vier Erzählungen, die auch jede für sich stehen könnten. Es geht um Hauptpersonen aus vier Generationen. Erst zusammen erschließt sich die Verbindung, die sie dann doch zu einer zusammenhängenden Geschichte werden lassen.
Allerdings, so Wolff, habe sie hier eine andere Erzählform gewählt. Man begleitet die vier Protagonisten nur über ein paar Tage, aber diese Tage wollte sie so dicht beschreiben, dass man eine Vorstellung von dem Leben dieser Person gewinnt. Erst am Schluss merkt man, dass alle zusammenhängen. So sei ein Familienporträt über 100 Jahre entstanden. Man trifft auf Jacob, den österreichischen Soldaten im Ersten Weltkrieg, seine Tochter Henriette, die er nie kennenlernen wird, Vicco in den 60er Jahren und – als Jüngste – auf den Spross Hedda. Auf eine Publikumsfrage hin bestätigt Wolff, dass sie diese Auswahl bewusst getroffen habe, sie habe es geradezu als Befreiung empfunden, auch mal aus der männlichen Perspektive zu schreiben.
Aus der zweiten Geschichte, in der eigentlich Henriette die Hauptperson ist, schildert sie, wie Großvater Elemér die nächtliche „Gesellschaft der Schlaflosen“ im Dorf gründet. Die Idee sei ihr ganz spontan im Bett gekommen, als sie sich vorstellte, wie es wäre, in einem Dorf zu leben, wo es üblich ist, sich auch nachts zu treffen, unter dem Nussbaum zu sitzen und Schnaps zu trinken. Lustigerweise bekommt sie viel Post von Lesern, die gerne auch so einem Club angehören würden. Zwar sei Elemér nicht die Hauptfigur, aber ältere Menschen wären in allen ihren Büchern zentrale Figuren, die so die Freiheit des Alters verkörpern. Zudem hätten ältere Menschen mehr Humor und nähmen sich selbst nicht so ernst.
Auch die nächste Passage stammt aus der zweiten Geschichte, in der der Schwager Henriettes für seine Lehrerprüfung viel Rumänisch lernen muss, sodass sich seine Frau beschwert, dass er fast schon im Bett rumänisch reden würde. „Sei froh, dass wir in einem Land leben, in dem man einander in drei Sprachen die Liebe erklären kann“, bemerkt hierzu die Mutter Alma. Was für ein schönes Bild für Siebenbürgen, fügt Ungar-Țopescu noch hinzu. Auf die spätere Frage hin, was sie bewogen habe, Religionswissenschaften zu studieren, antwortet Iris Wolff – abgesehen von dem Wunsch, andere Kulturen und Religionen kennenzulernen, habe sie es immer als bereichernd empfunden, aus einem Land zu stammen, in dem verschiedene Ethnien zusammenleben. Und dass jede Kultur, die der Ungarn, Deutschen und Rumänen, ein bestimmtes Bildinventar hätten, wobei manche Motive von der einen in die andere Kultur wanderten. Von Prof. Lăzărescu darauf angesprochen, welche Bedeutung z. B. rumänische Märchen für sie hätten, erklärt sie, dass es natürlich Überschneidungen gäbe, gerade zwischen den siebenbürgisch-sächsischen und den rumänischen, dies fällt besonders auf, wenn sie die siebenbürgischen mit denen der Gebrüder Grimm vergleicht. Faszinierend findet sie die rumänische Eingangsformel „es war einmal und ist doch nie geschehen“. Dies wirkt wie ein großes Warnschild, dass jetzt eine erfundene Welt kommt.
Der Satz fällt in der dritten Erzählung von Vicco, der bei einem Motorradunfall fast stirbt, ausgerechnet am Tag der Mondlandung. Glücklich entkommen, verfolgt er diese dann am Bildschirm, dessen Glaubwürdigkeit er mit eben jenem Märchensatz in Frage stellt.
In Bezug auf die Märchen glaubt Iris Wolff, dass der Mensch sich auf seine Umwelt weniger durch objektive Tatsachen bezieht, sondern durch das Erzählen von glaubhaften Geschichten.
Welche Bücher sie selber gerne liest? Lieber die Klassiker, aber sie entdecke auch immer mehr die Literatur der Enkelgeneration, z. B. aus Kroatien, die wie sie ausgewandert ist und gerne auch mal zurückblicke. Ihre großen Helden wären jedoch die verstorbenen Dichter, Kafka zum Beispiel, von dem sie gelernt habe, Räume zu beschreiben und wie die Figuren im Raum anzuordnen sind. Auch die Wichtigkeit von Gesten, weil sich darüber viel für den Leser erschließt. Novalis gehört zu ihren „Hausgöttern“, überhaupt die Frühromantik fasziniere sie seit ihrem Studium, sie schätze besonders seinen geschärften Blick auf die Welt.
Aus dem Nähkästchen geplaudert
Ihren Arbeitstag beginnt sie klassisch, wie Thomas Mann, früh morgens, denn dann sei der innere Kritiker leiser. Und wie vielfach bereits kolportiert, nutzt sie tatsächlich noch eine alte Schreibtastatur, die klackert wie eine Schreibmaschine. Ja sie hat sich sogar Ersatz besorgt, um notfalls so einer Schreibblockade vorbeugen zu können. Kontinuität beim Schreiben sei wichtig, denn wenn man Wochen und Monate unterbrechen müsste, sei es sehr schwer, wieder in die Geschichte reinzukommen. Dennoch hat sich ihr erstes Mammutprojekt, der „Halbe Stein“, über sechs Jahre hingezogen – dass sich dabei auch Zweifel einschleichen, räumt sie offen ein. Für das nächste habe sie aber nur drei Jahre gebraucht, das letzte sogar in zwei Jahren geschrieben, was nicht hieße, dass sie mit dem jetzigen bereits in einem Jahr fertig sei, denn sie arbeite gerne eher langsam. Bei allen Träumen, die man sich schreibend erfüllen könne, indem man sich z. B. in einer Figur auslebe, solle man nicht vergessen, selber zu leben, sagt sie noch an anderer Stelle. Und schließlich dürfe man ja auch auf Lesereise gehen. Die genießt sie nun zusammen mit ihrem Vater, der ihr hier nicht nur eine große Stütze, sondern vielleicht auch Inspiration für nächste literarische Abenteuer ist. In Kürze wird der Leser sie dann auf der Leipziger Buchmesse erleben dürfen, wo sie auf einer Reihe von Veranstaltungen auftritt.
Zum Schluss bereiten ihr die Studenten von Prof. Mariana Lăzărescu von der Germanistik in Bukarest noch eine schöne Überraschung. Die neun Studenten haben sich extra für die Lesung heute drei Seiten ihres letzten Buchs für eine Übersetzung ins Rumänische vorgenommen, die sie nun stolz und ein wenig aufgeregt vortragen, was die Autorin sichtlich erfreut entgegennimmt. Der Startschuss für eine Übersetzung ihrer Bücher ins Rumänische? Dies jedenfalls scheint der Wunsch aller Beteiligten im Raum.