Festgefahrene Sitten, brutale Geschehnisse, verhärtete Menschen – all das ist weit entfernt von einer romantischen Dorfidylle. In Leoš Janáceks Meisterwerk „Jenufa“ geht es um Eifersucht, Schande, Unglück und Mord: der ländliche Mikrokosmos ist vollkommen entzaubert und wird in rohen, drastischen, jedoch stets glaubwürdigen Farben dargestellt. Die literarische Vorlage bildet das Drama „Její pastorkyna“ („Ihre Stieftochter“) von Gabriela Preissová. Niemand ist hier wirklich glücklich, dennoch schimmert zum Schluss ein wenig Hoffnung, denn anders als in vielen Opern seiner Zeit gibt der Komponist der tragischen Handlung einen glücklichen Ausgang.
„Jenufa“ feierte zum Abschluss der Spielzeit an der Staatsoper Hannover Premiere – für die norddeutsche Bühne ist es bereits die fünfte Neuinszenierung dieses sonst selten aufgeführten Werks, mit dem Janácek vor etwas mehr als einem Jahrhundert seinen internationalen Durchbruch schaffte.
Ein karges Bühnenbild in spätsommerlich-reifen Farben wird vom metallischen Klang des Xylophons ergänzt, während die Hauptfiguren innerhalb weniger Minuten mit all ihren Sorgen dem Publikum vorgestellt werden. Es geht hier um einfache Menschen aus dem Volk, und vielmehr um Streit und Neid, als um Liebe. Nur die junge Bäuerin Jenufa hat ein reines Herz – doch gerade sie wird im Laufe des Operngeschehens am meisten leiden.
Jenufa, hervorragend gesungen von der Sopranistin Kelly God, erwartet ein Kind von ihrem Ziehbruder Števa und hofft darauf, ihn bald zu heiraten, um der Schande einer ledigen Schwangerschaft zu entkommen. Doch der hübsche und selbstbewusste Števa (Ivan Turšic) erscheint auf der Bühne umschwirrt von Mädels und Trinkfreunden – und wirkt damit von vornherein unseriös, auch wenn er Jenufa seine Liebe erklärt. Jenufas Ziehmutter, die strenggläubige Küsterin Buryjovka, glaubt ihm kein Wort und verbietet zunächst die Ehe – die Sopranistin Hedwig Fassbender dominiert dabei mit ihrer überwältigenden Präsenz die Bühne, genauso wie die Küsterin das ganze Dorfleben lenkt. Auch Števas Stiefbruder, Laca Klemen (Robert Künzli), liebt Jenufa, entstellt ihr jedoch in wilder Eifersucht die Wange mit einem Messer.
Der zweite Akt gehört in seiner ganzen Tragik der Küsterin. Die Stimmung ist eisig, düster, bedrohlich, die Musik steigert sich zu einem wahren Kampf für Stimmen und Orchester. Jenufa hat ihr Kind heimlich zur Welt gebracht und wird von der Küsterin im Haus versteckt. Števa weigert sich, sie zu heiraten, doch Laca bittet um ihre Hand. Die Küsterin erzählt Laca vom unehelichen Kind, flüchtet sich jedoch in eine Lüge und sagt, der Neugeborene sei kurz nach der Geburt gestorben. Um ihrer Ziehtochter eine Chance auf eine bessere Zukunft zu ermöglichen, entschließt sie sich zum grausamen Schritt und ertränkt den Säugling.
Dem Ensemble der Staatsoper Hannover gelingt es dabei, ein Höchstmaß an Spannung zu erzeugen: wo man meint, ein Maximum sei bereits erreicht, wird die Musik erst recht hartherzig, abrupt, schonungslos. Die heftige Auseinandersetzung der Küsterin mit Števa sowie der schauererregende Kindesmord stehen in frappantem – für Janáceks Musik kennzeichnendem – Kontrast zu Jenufas Ave-Maria-Gebet und ihrer Versöhnung mit Laca. Hier sind die Stimmen plötzlich leicht und mild, während die reduzierte Orchesterbegleitung tröstende Ruhe ausstrahlt.
Im dritten Akt ist die Bühne frühlingshaft-grün, im Haus der Küsterin feiern Jenufa und Laca Hochzeit, doch Festtafel und Brautkleid wirken sehr bescheiden, die Küsterin selbst ist krank, die Stimmung trotz der Freude bedrückend. Viel Energie und Heiterkeit – einen Farbtupfer im minimalistischen Bühnenbild – erzeugen an dieser Stelle der Opernchor (Einstudierung: Dan Raţiu) und das Ballett (Choreographie: Loris Zambon). Dank einer inspirierten Kostümwahl (Dieuweke van Reji) richten auch Nebenfiguren zeitweilig den Fokus auf sich: der Dorfrichter (Daniel Eggert), seine Frau (Julie-Marie Sundal) und vor allem ihre Tochter Karolka (Carmen Fuggiss) stellen in ihrem selbstbewusst-wohlhabenden Auftritt die Antithese zum simplen, bekümmerten Dorfleben dar. Gerade Karolka, die nun mit Števa verlobt ist, unterstreicht durch ihre Arroganz und die elegante Erscheinung in glänzendem Gelb, dass das Glück auf ihrer Seite steht. Die große Konfrontation der Küsterin mit dem Dorf bildet ein abschließendes Maximum. Der Kindesmord wird entdeckt, Buryjovka bekennt sich schuldig und wird abgeführt, Jenufa verzeiht ihr und bleibt bei Laca, den sie erstmals mit den Worten verwöhnt: „du bist der beste Mensch, den ich je getroffen habe“.
Das Ensemble der Staatsoper Hannover schafft es, diese überaus dynamische, lebendige und kontrastreiche Oper mit großer Spannung und gleichzeitig mit Feingefühl wiederzugeben. Die Solisten meistern hervorragend nicht nur die stimmlich schwierigen Partien, sondern auch die raffinierten Details, die sich aus der kleingliedrigen Sprachmelodie ergeben. Die Auftritte von Kelly God, Robert Künzli und Hedwig Fassbender waren bei der Premiere stimmliche wie schauspielerische Glanzleistungen – und zu den beiden starken Frauen auf der Bühne kam Karen Kamensek, die Generalmusikdirektorin der Staatsoper und Dirigentin des Abends, hinzu. Das Orchester spielte die satten, dunklen Farbtöne, die komplexen Rhythmen und die aus der Folklore inspirierten Melodien mit großer Überzeugungskraft, während der Regisseur Floris Visser dank des stark reduzierten Bühnenbildes die Aufmerksamkeit stets auf das Geschehen und die Evolution der Figuren lenkte. Ein exzellentes Opernerlebnis.