„Der Himmel ist leer, und der Kontinent quillt über vor unlösbaren Problemen. Europa ist überall und nirgends, es ist Hoffnung und Mythos zugleich, verantwortlich für alles und Sehnsucht dazu. Der Himmel ist leer, und Europa ist sein Ersatz.“ Mit diesen Sätzen endete Richard Wagners Essayband „Der leere Himmel. Reise in das Innere des Balkan“, veröffentlicht vor genau 20 Jahren. Am Dienstag starb Wagner mit knapp 71 Jahren nach langer, schwerer Krankheit in einem Pflegeheim in seiner Wahlheimat Berlin und seine 2003 veröffentlichten Sätze passen zum Jetzt genauso wie sie damals eine Realität erfassten, die Wagner wie kaum ein zweiter gekannt hat, profund und sehr persönlich: Banat, Berlin und die Welt dazwischen, die Wagner erklären konnte und irgendwann, in seiner Jugend, im Sinne eines undogmatischen Marxismus, verändern wollte.
Seit mehr als einem Jahrzehnt an der unheilbaren Parkinson-Krankheit erkrankt, musste Wagner in den letzten Jahren auf das Schreiben verzichten, bereits 2013 hatte er sein privates und literarisches Archiv an das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der Ludwig-Maximilians-Universität München abgegeben, wo es ausgewertet und archiviert wurde. Nachrufe erschienen in den deutschen Zeitungen sofort nach Bekanntgabe seines Dahinscheidens, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sah in Wagner einen „sanften Guerillero“, die „Welt“ einen „Aktionisten und Welterklärer der Achtzigerjahre“, der „Tagesspiegel“ platzierte ihn „quer zwischen Ost und West“.
Seine dichterische Laufbahn hatte der am 10. April 1952 in der mehrheitlich von Banater Schwaben bewohnten Gemeinde Lowrin geborene Richard Wagner bereits als 17-Jähriger begonnen, seine ersten Gedichte veröffentlichte er 1969 im „Neuen Weg“. Als Student der Germanistik und Rumänistik in Temeswar publizierte er Lyrik und Kurzprosa, 1972 gründete er gemeinsam mit mehreren Studienfreunden die „Aktionsgruppe Banat“. Zum engeren Kreis der Gruppe gehörten neben Wagner Johann Lippet, Ernest Wichner, Albert Bohn, Rolf Bossert, Anton Sterbling, Gerhard Ortinau, William Totok und Werner Kremm. Im Anschluss an sein Studium musste er als Deutschlehrer arbeiten, später betätigte sich Wagner als Journalist und veröffentlichte weiterhin Lyrik, wandte sich aber auch der Kurzprosa zu. Der Ausreiseantrag, den er gemeinsam mit seiner Frau Herta Müller Mitte der 1980er Jahre stellte, wurde 1987 genehmigt; von da an lebte Wagner als Schriftsteller und freier Journalist in Berlin, von Herta Müller ließ er sich 1989 trennen.
Der Lyrik blieb Wagner sein Leben lang treu. Zwischen 1973 und 2017 publizierte er zwölf Gedichtbände; 2017 veröffentlichte er eine Auswahl aus allen knapp 1000 geschriebenen Gedichten sowie einige, die zuvor nur in Zeitschriften abgedruckt waren oder unveröffentlicht in seinem Archiv vorlagen. Wagner, der seit Beginn seines lyrischen Schaffens für einen kritischen und wachen Umgang mit der Wirklichkeit eintrat, hinterfragte anfangs besonders die engen Traditionen und konventionellen Denkweisen der deutschen Minderheit, später mündete diese Haltung in die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur.
Bereits 1973 hatte der aus Hermannstadt stammende Schriftsteller Franz Hodjak der Lyrik Wagners „einerseits die Neigung zu einer überaus plastischen Vergegenständlichung der lyrischen Substanz und andererseits den Hang zum abstrakteren poetischen Diskurs“ attestiert und einen nüchternen, unterkühlten, mit kargem Wortmaterial aufgebauten Diskurs entdeckt. Die Lyrik, die Wagner nach seiner Ausreise in die Bundesrepublik schrieb, wandelte sich mit seiner Lebenswelt und wurde introspektiver, knapper und schließlich wieder aphoristischer, bemerkte Christina Rossi, die Wagners Vorlass am IGKS geordnet und gepflegt und sich mit seinem Werk auseinandergesetzt hat. „Fragmentarische Stadtbilder und die Beobachtung der Lebensvergessenheit der Konsumgesellschaft gewinnen durch die größere Nüchternheit des Tons und der Konstruktion der Gedichte zugleich an poetischer Schärfe wie an Suggestivkraft“, hatte die Literaturwissenschaftlerin Rossi über Wagner 2017 geschrieben.
Anfang der 1980er Jahre wandte sich Wagner der Prosa zu und pflegte dabei zunächst die Kurz- und Kürzestprosa in mehreren eigenständigen Bänden und regelmäßigen Publikationen in deutschsprachigen Zeitungen in Rumänien. Die teilweise der phantastischen und absurden Literatur nahestehenden Fragmente und Skizzen gehören zum Besten, das Wagner in der Prosa vermochte. Dennoch gab er das Genre bald zugunsten des Romans auf; bereits kurz vor der Ausreise ging er zur etwas längeren Erzählung über, in Deutschland widmete er sich dann intensiv dem Roman.
Zu seinen wichtigsten und erfolgreichsten Romanen gehören „Miss Bukarest“ (2001), „Habseligkeiten“ (2004) und „Das reiche Mädchen“ (2007). Zeitgleich betätigte er sich als Journalist und Essayist, schrieb für mehrere deutsche Zeitungen und veröffentlichte über Jahre Kolumnen in der von seinem Freund Werner Kremm geleiteten „Banater Zeitung“. 2003 veröffentlichte er den Essayband „Der leere Himmel. Reise in das Innere des Balkan“, 2011 dann gemeinsam mit Thea Dorn den Bestseller „Die deutsche Seele“, ein Essaywerk, das typisch deutsche Begriffe und Kulturgüter diskutiert. Bereits 2006 hatte er sich in einem eigenen Essayband mit dem Titel „Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes“ mit derselben Problematik auseinandergesetzt. 2014 widmete er sich dann erneut der Seelenlandschaft Mitteleuropas, als Bibliothekar der untergegangenen Welt der Habsburger überzeugte er erneut durch Kenntnisreichtum und Unaufgeregtheit, durch eine großartig präzise Sprache.
In seiner zuletzt erschienenen Prosa „Herr Parkinson“ schreibt Wagner über seine Krankheit mit Zorn, Witz und Traurigkeit. Wagner pflegt einen schonungslosen inneren Monolog, es ist der Monolog eines „physisch wie psychisch derangierten Erzählers, dessen Erkrankung sein gesamtes Leben umwirft, beansprucht und herausfordert“, wie Rossi 2017 in einer Einführung zu Wagners Leben und Werk treffend schrieb.
In den am Mittwoch in mehreren deutschen Medien veröffentlichten Nachrufen auf Richard Wagner wird immer wieder auf eine merkwürdige Entwicklung in Wagners Denken hingewiesen. Aus einem linken Rebellen der 1970er Jahre, der gemeinsam mit seinen Freunden und Schriftstellerkollegen, in der Nachfolge Bertolt Brechts, Literatur ernst und beim Wort nahm und somit ein politisches Vergehen begang (so Herbert Wiesner in der „Welt“), das ihn und die anderen Verhaftungen, Verhöre und weitere Drangsalierungen durch die Securitate gekostet hat, soll in den letzten Jahren seines Lebens „ein Rechtsnationaler“ (Gregor Dotzauer im „Tagesspiegel“) geworden sein. Erinnert wird daran, dass Wagner für ein konservatives Netzwerk namens „Die Achse des Guten“ geschrieben hat, dass er 2013 in einer im Aufbau-Verlag veröffentlichten Anthologie mit hundert deutschen Gedichten auf Paul Celans „Todesfuge“ unmittelbar ein Gedicht der für Hitler schwärmenden Agnes Miegel folgen ließ oder dass er 2010, im Zuge der Skandale um die Securitate-Mitarbeit mehrerer rumäniendeutscher Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, dem Dichter Oskar Pastior „jede moralische Begründung“ absprach (derselbe Wiesner in der „Welt“).
Über die Gründe für dieses Abdriften ins Konservative, „ja Rechtslastige“, wie es in deutschen Medien hieß, wird man nur rätseln können. Aber der Hinweis eines der nachrufenden Autoren dürfte stimmen, vielleicht habe Wagner jene Freiheit von Neuem bedroht gesehen, die er in seinen jungen Jahren meinte und zu verteidigen versuchte, dieses Mal „durch die Verkehrung sämtlicher Maßstäbe in der offenen Gesellschaft“. Wie schwer der Schatten der späten Rechtslastigkeit über Wagners Werk liegt, bleibe dahingestellt. In einem sollte man sich aber nicht täuschen: Als lakonischer Lyriker und begabter Romancier, als virtuos zwischen Fakten und Mentalitäten Wandernder, als aufmerksamer Beobachter und scharfer Analytiker, als illusionsfreier Erinnernder, sanfter Welterklärer und begnadeter Erzähler gehört Wagner zweifelsohne zu den bedeutendsten und eindrucksvollsten Stimmen der rumänisch-deutschen Gegenwartsliteratur. Eine der letzten.