Über ein „Oh weia“ war Gabe Newell am 19. September 2003 längst hinaus. Seine Spieleschmiede Valve hatte zu dem Zeitpunkt bereits vier Jahre in die Entwicklung des Ego-Shooters Half Life 2 investiert. Zahlreiche Überstunden und Millionen Dollar später, sah sich Newell vor einer unvorhersehbaren Katastrophe: Ein Hacker hatte sich Zugang zu Valves Servern verschafft und das unfertige Spiel ins Netz gestellt. Binnen weniger Stunden konnte alle Welt sehen, woran Newell und sein Team seit Jahren gearbeitet hatten. Die Fangemeinde reagierte auf die interne Krise des Studios unterschiedlich.
Manche waren genauso entsetzt wie Valve, manche waren glücklich, endlich Half Life 2 spielen zu können und viele waren einfach nur schadenfroh, denn schließlich hatte Newell den Fans das Spiel schon längst versprochen, nur um dann den offiziellen Erscheinungstermin hinauszuzögern.
Revolution in Grenzen
Die Presse zeigte sich weder glücklich noch schadenfroh, sondern skeptisch. Denn nur wenige Monate zuvor versprachen Newell und sein Team während der E3 in Los Angeles ein Spiel zu liefern, das das Medium revolutionieren würde. Schließlich hatte das erste Half-Life Spiel 1998 genau das getan. Nun sollte der Nachfolger die Erwartungen der Fans und der Presse übertreffen.
Worauf Valve setzte, war besonders die Implementierung der Havok Physics Engine in ihr Spiel. Damals war die Software der irischen Firma noch ein Novum. Was es versprach waren Gegenstände, die sich im Spiel physikalisch korrekt verhalten. Wenn die Spielfigur zum Beispiel gegen ein Fass laufen würde, würde dieses zur Seite kippen und dann dynamisch in eine Richtung rollen. Spieler hatten so ein realistisches Verhalten von Gegenständen in Spielen noch nicht erlebt. Vor Havok wirkten Spielwelten wie Kulissen und Gegenstände waren nur ein Teil jener statischen Kulissen die sich leer und leblos anfühlten. Havok schuf die Illusion von Objekten, wie im echten Leben.
Nur hatte das Ganze einen Haken: Die Gegner und Nebenfiguren wirkten nun im Vergleich zur Spielwelt künstlicher. Valve wollte sich darum als Pionier sehen und versprach während der E3, dass die Gegner auf Veränderungen in ihrer Spielwelt reagieren würden. Das war eines der Revolutionen, die Newell versprach.
Für damalige Verhältnisse schien es ein zu hochgestecktes Ziel zu sein. Doch den Beweis lieferte Valve im E3 Video. Darin flüchtet der Spieler vor dem sogenannten Combiner, die ihn beschießen, sucht in einem Gebäude Zuflucht, schließt die Tür hinter sich und dann schiebt er einen Tisch vor die Tür und das Unglaubliche passiert: Die Combine kriegen die Tür nicht auf, versuchen es mit Gewalt, doch der Tisch hält dagegen. So natürlich und echt hatte sich ein Ego-Shooter noch nie angefühlt. Spielen konnte man die Demo damals nicht. Als dann der Leak im Internet erschien, wurde die gleiche Szene von der E3 als Lüge entlarvt. Viele Spiele machten es dem E3 Video nach, versuchten die Tür mit Gegenständen zu verbarrikadieren, doch das Spiel reagierte darauf nicht.
Das Blau vom Himmel versprechen
Ein Jahr später würde Half-Life 2 dann doch erscheinen. Newells Spieleschmiede würde mit dem Titel Millionen verdienen und den Weg ebnen für weitere erfolgreiche Serien. Ganz die Revolution von der Valve im Frühjahr 2003 sprach, wurde es dann nicht. Es gehörte aber trotzdem zu den Meilensteinen seiner Zeit aufgrund der beeindruckenden Grafik, den für damalige Verhältnisse lebensechten Nebenfiguren und der Spielphysik. Noch heute wird die Half-Life-Serie als eine der besten Spielserien aller Zeiten gefeiert. Inzwischen aber scheint sich die Geschichte zu wiederholen, denn die Fans schreien nach Half-Life 3, während Valve sich mit Informationen bedeckt hält.
Von Valves Erfolg würde sich Peter Molyneux eine Scheibe abschneiden wollen, denn der Brite hat schon oft das Blaue vom Himmel versprochen, nur um dann den übertriebenen Erwartungen der Spieler nicht gerecht zu werden. Heute nimmt kaum jemand Molyneux ernst, wenn er von Spielwelten spricht, die mit dem Spieler altern und sich die guten und schlechten Taten des Spielers merken. Fünf Jahre hatten Gamer auf Molyneux’s Rollenspiel „Fable“ gewartet. 2000 klang es zu schön um wahr zu sein: Ausgehend von den Entscheidungen des Spielers würde sich die Welt drastisch verändern.
Wer der große strahlende Ritter sein wollte, würde von allen geliebt und in einem Paradies leben. Wer lieber Häuser abfackelte und andere bestahl, sollte von allen gefürchtet werden und auch die Welt sollte dementsprechend seine schlechten Taten widerspiegeln. Bäume sollten mit der Spielfigur altern, Narben sollten verheilen. Als das Spiel 2004 schließlich herauskam, war „Fable“ nur das halbe Spiel, das versprochen wurde. Was sich Molyneux vorgenommen hatte, war technisch niemals möglich gewesen.
Dabei war der aus Guildford stammende Game Designer über jeden Zweifel erhaben. In den 1990er Jahren war er an der Entwicklung einiger Strategiemeilensteine wie „Populous“ und „Syndicate“ beteiligt. Er gilt als der Vater der „Göttersimulation“. Diesen Ruf festigte er 2001 mit dem Spiel „Black and White“. Inzwischen scheint er sich ausschließlich auf die „Fable“-Spiele zu konzentrieren. Für echte Rollenspielfans sind die Spiele zu simpel gehalten.
Die Produktion der Spiele, die alte Hardcore-Fans von Molyneux wollen, wurden längst eingestellt. Sowohl Dungeon Keeper 3 als auch Black and White 3 mussten weniger anspruchsvollen Titeln Platz machen. Den Nerv der Zeit trifft der Spieleentwickler schon längst nicht mehr. Genau wie die Hardcore-Spiele, die ihn berühmt machten, muss auch Molyneux inzwischen anderen, jüngeren Entwicklern Platz machen.
Innovation aus der Indie-Szene
Dabei kommen viele überraschenderweise aus der sogenannten Indie-Szene. Genau wie im Filmgeschäft findet man inzwischen auch in der Spielebranche die Innovationen in den Low-Budget-Spielen unabhängiger Entwickler wie Jonathan Blow, Dino Patti oder Markus Persson. Ihre Spiele erinnern zwar an die guten alten 2D-Tage, als Spiele noch nicht Millionen Euro verschlangen, überraschen dafür mit origineller Spielmechanik.
Oft erinnern gerade diese Indie-Entwickler daran, dass in Spielen die Spielmechanik Vorrang hat und erst dann kommen Handlung und Grafik. Damit schlägt man sich gegenseitig vor den Kopf. Denn während Entwickler wie Valve auf mehr Handlung in Spielen setzen und dadurch die Spieleindustrie revolutionierten, pochen Indie-Gamer oft auf Spielmechanik statt Handlung. Dem schließen sich inzwischen auch viele etablierte Entwickler wie David Jaffe an. Auf der jüngsten DICE Konferenz in Las Vegas sprach sich Jaffe für weniger Handlung in Spielen aus. „Wenn ihr eine Geschichte zu erzählen habt, dann wählt euch ein anderes Medium aus“, sagte der God of War-Entwickler.
Damit steht inzwischen fest, dass sich in der Spielindustrie mehrere Fronten bilden. Denn nur zu oft heißt es in modernen Videospielen entweder gute Handlung oder gute Spielmechanik. Nur selten gelingt es einem Spiel beides miteinander erfolgreich zu verbinden.
Führend bleibt erstaunlicherweise Valve, die mit Portal 2 im vergangenen Jahr ein Spiel lieferten, das sowohl eine herzzerreißende und spannende Geschichte erzählte, aber auch ein innovatives Puzzlespiel lieferte, das im Vergleich zur Konkurrenz einzigartig bleibt. Andere erfolgreiche Spiele wie Naughty Dogs „Uncharted“-Serie oder Activistions „Call of Duty“-Spiele gehen in Sachen Spielmechanik auf Nummer sicher und konzentrieren sich auf ein kinoreifes Erlebnis. Deswegen wird diesen Spielen oft vorgeworfen, dass sie immer mehr zu interaktiven Spielfilmen verkommen, statt ausgereiften Videospielen, die auch ohne die Handlung und Grafik beeindrucken würden. Valve machen es nur wenige nach. Irrational Games bleibt ein positives Beispiel mit den Bioshock-Spielen. Ein weiteres positives Beispiel ist der japanische Spieleentwickler Fumito Ueda.
Japans Innovateur
Für die Playstation 2 entwickelte Ueda zwei Klassiker: Die Action-Adventure Spiele „Ico“ und „Shawow of the Colossus“. Beiden Spielen gelingt es, eine Geschichte allein durch die Spielmechanik zu erzählen. In „Ico“ schlüpft der Spieler in die Rolle eines kleinen Jungen, der sich zusammen mit einem mysteriösen Mädchen einen Weg aus einem gefährlichen Schloss bahnen muss. Der Clou: Das Mädchen ist hilflos.
Der Spieler muss sie an der Hand nehmen und sie durch das Schloss lotsen, dabei Rätsel lösen und einen Ausweg für beide finden. Unweigerlich entsteht eine Bindung zu dem namenlosen Mädchen. Worauf sich Ueda stützt, sind allein die Konventionen des Mediums, die in den 1980er Jahren schon festgesetzt wurden. Shadow of the Colossus verhält sich ähnlich. Hier muss ein junger Mann sechzehn Kolosse erlegen, um eine junge Frau von den Toten auferstehen zu lassen. Sein jüngstes Projekt „The Last Guardian“ wurde für 2012 angekündigt. Ein genauer Erscheinungstermin steht allerdings noch nicht fest.