Im richtigen Leben geht nichts ohne Beherrschung der Grundbausteine Alphabet, Einmaleins und Musiknotenschrift. Befragte man Berufsmusikerinnen und -musiker nach Prioritäten bezüglich elementarer Bildung vom Kindesalter an, würde das sperrigste aller erlernbaren Schreibsysteme nicht stiefmütterlich von der Antwort ausgeklammert. Zugegeben: Alphabet und Einmaleins graben sich vergleichsweise einfacher in das Langzeitgedächtnis ein, da der Schritt vom Auswendiglernen und täglichen Üben zum finalen Durchschauen logischer Grundstruktur früher oder später auch ohne Hilfe von Eltern und Unterrichtenden wie von selbst geschieht. Buchstaben und Ziffern finden schnell und leicht ihre spezifischen Dreh- und Angelpunkte im Körper des Menschen. Da ist Musik vielfach abstrakter. Leider!
Trotzdem ist es möglich, die Musikstunde im Klassenraum früher Grundschulstufen derart ansprechend zu gestalten, dass weder bei Lehrerinnen noch Kindern der Eindruck aufkommen kann, mit Widerwillen einen schweren Gegenstand über sich ergehen lassen zu müssen, auf den man herzlich gerne verzichtete, wenn nur das Bildungsministerium ihn vom Lehrplan streichen wollte. Falsche Untertöne mit bedenklichen Langzeitfolgen! Wie soll denn der Wunsch nach einem kulturell gebildeten Rumänien in Erfüllung gehen, wenn der Zugang zum Kennenlernen von Grundfesten der Kunst einfach mal so vom Start weg gekappt würde?
Unsauber brummende Schulkinder haben klar bessere Aussichten als ihre überhaupt gar nicht singenden Klassenkollegen. Wer anfangs im dumpfen Keller strahlend helle Töne sucht, schafft es garantiert bis hi-nauf in die glasklaren Stockwerke des eigenen Stimmumfangs. Dessen Grenzen natürlich bei jedem Menschen woanders liegen. Aber allein durch Schweigen und Zuhören ist noch nie jemand zu einer musikalischen Person herangewachsen.
Achtzehn Grundschullehrerinnen, die ihren Knochenjob an Rumäniens staatlichen Bildungseinrichtungen in deutscher Unterrichtssprache leisten, beteiligten sich wissbegierig an dem vom Zentrum für Lehrerfortbildung in deutscher Sprache Mediasch (ZfL) angebotenen Seminar „Musik mit dem neuen Lehrbuch“ am Samstagvormittag, dem 9. November, in der Aula des Samuel-von-Brukenthal-Gymnasiums Hermannstadt/Sibiu. Großpold/Apoldu de Sus, Agnetheln/Agnita, Schäßburg/Sighișoara und auch die gastgebende Stadt waren im Teilnehmerinnenfeld vertreten. Doch die weitaus meisten Interessentinnen waren aus Mühlbach/Sebeș eingetroffen - „dann hätten wir den Kurs eigentlich auch in Mühlbach veranstalten können!“, bemerkte Adriana Hermann nebenbei. Die Grundschulreferentin des ZfL ist eine von drei Autorinnen und Autoren des neu verfassten und Herbst 2019 von der Editura Didactică Pedagocică S.A. (EDP Verlag) veröffentlichten Lehrbuches „Musik und Bewegung“ für die 2.Klasse. Brita Falch Leutert, Kantorin der evangelischen Kirchengemeinde A.B. Hermannstadt, und Jürg Leutert, Musikwart der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien, zeichnen für die fachliche Genauigkeit des Buches verantwortlich.
Eine einzige Teilnehmerin hatte anfangs nicht Mut zum Singen im Team, und nur drei von ihnen unterrichten im aktuellen Schuljahr eine 2. Klasse. Dennoch verlief die Fortbildung in ausgezeichneter Stimmung und mit hohem Interesse aller Mitmachenden, da der Lehrplan für den Gegenstand Musik in der Grundschule keine anspruchsvollen Vorgaben festlegt. Der beste Lernweg führt ohnehin an den Spuren direkter Erfahrung entlang. Bis einschließlich Ende des zweiten Schuljahres müssen keine Fähigkeiten im punktuellen Umgang mit der Notenschrift gepaukt werden. Die Verknüpfung von Melodie, Papier und kindlichem Begriffsvermögen geschieht vorerst mal nur mittels Farben und Symbolzeichnungen.
„Ich hoffe, dass bei Seminarende um 14 Uhr alle unter uns hier gerne singen werden!“, sprach Brita Falch Leutert zur Begrüßung freundlich ermutigend in den Stuhlkreis. „Man muss keine Angst vor der eigenen Stimme haben. Einfach probieren! Das Brummen von Kindern geschieht deshalb, weil sie außerhalb des Sprechens ihre eigene hohe Stimme noch nicht entdeckt haben“, so die Erklärung vor dem Einsingen und Experimentieren mit langgestreckten Rufen von tief unten bis ganz hoch und wieder zurück. Sobald das körperliche Gefühlserlebnis entfacht wurde, können Töne vorgezeigt und zugeordnet werden. Die Hand eignet sich zum Anzeigen imaginärer Stufen, die auch am Körper von Kopf bis Fuß über Schulter, Brustkorb, Hüfte, Oberschenkel und Knie treppauf-treppab helfen, das melodische Empfinden auf bildliche Vorstellungen zu eichen. Lieder mit geringem Tonumfang und einfachem Rhythmus passen sehr gut auf die fünf gespreizten Fingerspitzen.
Es gilt die ausdrückliche Empfehlung, das altgediente Kommunikationsmuster der Einbahnstraße von Lehrerin zu Schulklasse nicht mehr allzu ernst zu nehmen. Kinder dürfen und sollen reihum nach vorne an die Tafel treten und selbst mit Hand und Fingern nach eigener Wahl frei zu erfindende Singübungen anleiten. Auch sind dem Dichten neuer Texte keine Grenzen gesetzt, was sehr gut auf Klassiker wie beispielsweise „Alle meine Entchen“ angewendet werden kann: „Alle meine Freunde sitzen hier im Kreis/Warten auf die Stunde/Sind auf einmal leis´!“ Selbstredend, dass in diesem Augenblick vielsagendes Lachen die Runde von Teilnehmerinnen und Kursleitung erheiterte.
Adriana Hermann stellte die einfache wie effektive Übung mit dem eigenhändig vorgehaltenen Papiertaschentuch vor, das sich beim Sprechen einzelner Wörter deutlich bewegen sollte. Große Mundöffnung und gesunder Luftstrom auch und vor allem während des Singens wirken befreiend. Sicheren Erfolg im Musikunterricht darf man sich von der Verwendung geeigneten Schlagzeugs versprechen. Glockenspiel, Xylophon und Orff-Instrumente aller Art sind zwar nicht billig, wenn man sich für eine komplette Ausstattung entscheidet, erzeugen aber garantiert Begeisterung im Klassenraum. Das ZfL führt einen vollständigen Orff-Instrumentensatz im Inventar und stellt ihn gerne leihweise zur freien Verfügung.
Auch gibt es Zubehör, das keinen Finanzaufwand bedeutet: für ein Paar Klanghölzer genügt ein ellenlanges Stück von einem ausreichend dicken Baumzweig. Trocknen lassen, von der Rinde befreien, Oberfläche glatt schleifen und in zwei gleichlange Stäbe sägen. Je nach Handhaltung und Material können mit ein und demselben Klangholzpaar helle, stumpfe, leise und laute Rhythmen erzeugt werden. Hyperaktiven überlässt man vorsichtigerweise am besten gleich von Anfang an ausschließlich Klanghölzer aus weichem Material, die auch bei kräftigem Schlag keinen störenden Lärmpegel ermöglichen.
Personen, denen die Gitarre anstrengend erscheint, empfiehlt Brita Falch Leutert die kleinere Ukulele mit nur vier Saiten, ein auch für kleinere Hände noch sehr gut spielbares Zupfinstrument, dessen Anwendung sich anhand von kostenlosen Youtube-Tutorials leicht erlernen lässt.
Das neue Lehrbuch „Musik und Bewegung Klasse 2“ für den Unterricht in deutscher Sprache ist exzellent gestaltet. Schulkinder benötigen es nicht zwingend für die tägliche Hausaufgabenarbeit. Lehrerinnen hingegen bedeutet es eine unschätzbare Unterrichtshilfe. „Mich interessiert, ob das ein Buch ist, das die Lehrerin alleine entziffern kann“, gab Adriana Hermann den achtzehn Kursteilnehmerinnen als Frage mit auf den Weg. Eine Sache bezweckt das neue Musiklehrbuch nicht: das Erlernen, Verstehen und sichere Anwenden der Notenschrift. Kinder der 2. Klasse müssen hierin noch keine abstrakten Schritte gehen können. Erwachsenen jedoch, die in der Grundschule Musik unterrichten, würde es bestimmt nützen, nicht alleine den praktischen, sondern auch den theoretischen Zugang zur Musik grundlegend zu beherrschen. Wer sich auf den musikalischen Gemeinschaftsbahnen des Lebens unabhängig, also ohne langwieriges Auswendiglernen und Kontrolle durch Dirigent oder Musikinstrument von Takt zu Takt singen können möchte, muss bei Bedarf auch Kniffe der Abstraktion beherrschen. Dass nur beruflich Musik Ausübende sie zu verstehen brauchen, stimmt nicht. Notenlesen ist ein Alltagsutensil. Genauso wie auch das Alphabet und das Einmaleins. Keine Kunst.