Rückkehr des „weißen Löwen“

Nach 70 Jahren steht Dirigent Arie Levanon auf der Bühne seiner Jugend in Focşani

Die Liebe zur Musik bestimmte sein Leben

Gemeinsames Interview nach dem Konzert: Arie Levanon (2. v. li), Vincent Grüger (3. v. li) und der deutsche Botschafter Werner Hans Lauk (re)

Konzert des Orchesters „Unirea“ im Februar 2016, je zur Hälfte dirigiert von Arie Levanon und Vincent Grüger

Die beiden Dirigenten im Gespräch mit jungen Journalisten und Bloggern aus Focşani
Fotos: George Dumitriu

Focşani, 1936: Behände erklimmt der fünfzehnjährige Leon die Bühne des Volksathenäums „Gheorghe Pastia“. Er klemmt das Notenblatt in den Ständer, drückt die Violine sanft an die Schulter, entlockt ihr ein paar erste, klagende Töne. Neben ihm bläst der 40-jährige Uhrmacher der Stadt hingebungsvoll in die Flöte. Für den Jungen ist der Hobbymusikant längst ein „alter Mann“ - doch im Orchester „Unirea“ spielen Lebensjahre, Stand und Herkunft keine Rolle. Die Liebe zum Musizieren verbindet Männer und Frauen, Schüler und Berufstätige, alt und jung. Eine Nische, in der sich der musikbegeisterte jüdische Junge geborgen fühlt. Und in der sich schon bald, im zarten Alter von 17, ein großer Traum für ihn erfüllen soll: Er wird Dirigent des semi-sinfonischen Stadtorchesters - sein erster bezahlter Job!
 

Doch das Glück ist nicht von Dauer. 1951 emigriert Leon, mitterweile 19, nach Israel. Für immer. Erst im Februar 2016 - fast 70 Jahre nach seinem ersten Auftritt in Foc{ani - kehrt der 84-Jährige als Gast auf die Bühne seiner Jugend zurück! Aus Leon Vaismann ist inzwischen Arie Levanon geworden - ein in Israel bekannter Komponist und Dirigent.

Einwanderer aus Russland

Sein Name bedeutet, ins Hebräische übersetzt, der weiße Löwe - weiß von Vaismann und Löwe wie Leon. Ob es deutsche Vorfahren gab, ist ihm nicht bekannt. Sein Großvater war in den 1870ern als Soldat aus Russland gekommen. In Focşani, wo seit dem 16. Jahrhundert eine jüdische Gemeinschaft existierte, hatte er eine Familie gegründet, der fünf Kinder entsprangen. „In Russland gab es eine Zeit, wo man an der Ansiedlung von Juden interessiert war, es gibt ganze Regionen nur mit Juden“ erklärt Arie Levanon. „Aber auch mit Deutschen - für alle möglichen Ideen. Die Juden sollten wahrscheinlich den Handel fördern. Mein Urgroßvater war Buchhalter bei einem russischen Großgrundbesitzer, er verwaltete sein Vermögen. Mein Großvater besuchte dort eine jüdische Schule, wo er Religion und Hebräisch lernte.“

Auch Leon ging anfangs in Focşani auf die jüdische Schule, wo er die ersten vier Jahre Hebräisch als Fremdsprache erlernte, denn zuhause wurde Rumänisch gesprochen.

Die Liebe zur Musik bestimmte früh sein Leben. Mit 15 trug er zur Gründung des Orchesters „Unirea“ bei und dirigierte zudem einen Schulchor. „Die Rumänen haben wunderbare Stimmen - den italienischen sehr ähnlich“ schwärmt Levanon. „Wir hatten sehr viele Auftritte - auch in diesem Konzertsaal im Volksathenäum.“

Aufbruch in ein neues Leben

Es war nicht leicht, dies alles zurückzulassen, erinnert er sich an die Auswanderung nach Israel. Doch Rumänien war zu einem schwierigen Terrain für die jüdische Minderheit geworden. „Ich war nicht politisch interessiert, auch waren die Kommunisten eigentlich gegen Antisemitismus, doch für sie zählte nur, welchen Beruf die Eltern ausübten, ob sie dich als Freund oder Feind einstuften. Mein Vater war Händler und galt deswegen als Antisozialist. Beruflich hatte ich hier keine Zukunft.“ Als eine jüdische Gruppe nach der anderen Focşani verließ, zog es auch die Vaismanns ins gelobte Land.

„Am Anfang fehlt dir alles, die Freunde, du fängst total bei Null an“, erinnert sich Levanon. Zuerst wohnte die Familie in einem Zelt in der Sandwüste, dann in einer Holzbaracke. Erst nach einem Jahr zogen sie nach Jaffa in eine Gemeinschaftswohnung, zusammen mit drei anderen Familien auf einem Stockwerk, mit Gemeinschaftsbad und -küche. „Ein ehemaliges Haus von Arabern, die geflohen sind...“

Doch auch in dieser Lage war Musik das Wichtigste im Leben des späteren Komponisten. Für den 19-jährigen Jungen und die ebenfalls musikbegabte, sechs Jahre jüngere Schwester Berta wurde ein Klavier angemietet. Vier Menschen und ein Flügel - in einem Zimmer! „Ich schrieb mich sofort in der Musikakademie ein und verdingte mich parallel als Musiklehrer“, erzählt Levanon. Die Lektionen in der Akademie - im Gebäude einer Grundschule improvisiert - fanden nachmittags von drei bis neun Uhr abends statt, von morgens bis zwei Uhr unterrichtete er dort. Nun kamen ihm die Hebräischkenntnisse aus der Grundschule zugute. Sie ermöglichten ihm, gleich zu arbeiten und damit seine Eltern zu unterstützen.

Auch im Armeedienst - in Israel Pflicht für Jungen wie Mädchen - war ihm seine musikalische Begabung von Nutzen. Seine Wehrpflicht wurde aufgeschoben bis zum Ende des Studiums und Dienst an der Waffe musste er nur drei Monate lang leisten. Danach leitete er die Musikgruppe der Armee, schrieb Lieder, komponierte und brachte der Truppe das Singen bei. So kam er erstmals mit leichter Musik in Kontakt, denn an der Akademie wurde nur klassische Musik gelehrt. Für seine weitere berufliche Laufbahn war dies ein Vorteil. Er begann, mit Theatern und Chören zu arbeiten und baute sich langsam eine Karriere auf.

Ungeahnter Höhenflug

Der Sprung in die Berühmtheit kam über Nacht: In einem Wettbewerb 1960, dem ersten israelischen Festival für leichte Musik, gewann er mit seiner Komposition „Erev ba“ („Wenn es abend wird“) überraschend den ersten Platz. „Jeder Komponist durfte mit maximal drei Stücken antreten, von denen neun in die engere Auswahl kamen - davon zwei von mir“ erinnert sich der Komponist. Jedes Lied wurde von zwei Interpreten, einer männlichen und einer weiblichen Stimme, vorgetragen. Dann wählte die Jury, indem jeder ein Kärtchen in einen Kasten steckte. „Meine Komposition wurde innerhalb weniger Tage im ganzen Land bekannt!“ Es war der bedeutendste Moment seines Lebens, bekennt Levanon.

Heute gilt das Lied in der jüdischen Diaspora auf der ganzen Welt als „heimliche Hymne Israels“. Wenn auf Veranstaltungen zuerst offiziell die Nationalhymne gespielt wird, folgt am Ende meist „Erev ba“, freut sich Arie Levanon. Zu der Melodie gibt es mittlerweile auch einen Tanz, der ein wenig an die rumänische Hora erinnert.

Seine Kompositionen - neben klassischen Werken ist erAutor von über 1500 musikalischen Arrangements und 350 Eigenkompositionen aus dem Genre der leichten Musik, sowie von einigen hundert Kinderliedern - sind auch ein wenig von traditioneller rumänischer Musik beeinflusst, bekennt Levanon und erklärt: „In israelischer Musik finden sich naturgemäß Elemente aus aller Welt - aus dem Spanischen, aus dem osmanischen Reich, aus dem maurischen Nordafrika oder dem Nahmittelosten, aus dem Griechischen oder Mitteleuropa - denn in Israel vereinigen sich Juden aus aller Welt. Ihr Leben in der Diaspora und die dortige Musik hat natürlich auch ihre Melodien geprägt. In der israelischen Folklore fließt das alles zusammen!“ So ist es kein Geheimnis, dass selbst die israelische Nationalhymne, komponiert von einem Israeli mit Vergangenheit in Jassy/Iaşi, von der rumänischen Folklore inspiriert ist.

Sergiu Celibidache: Lehrer und Freund

1960 erhielt das aufstrebende Musiktalent ein Stipendium für ein Studienjahr in Rom. „Meine Frau stammt aus Benghazi, Libyen, was früher mal italienische Kolonie war. Sie spricht Italienisch und ich hatte mich zu einem Sprachkurs im italienischen Institut eingeschrieben. Offenbar war ich ein guter Schüler...“ motiviert Levanon sein Glück. In Rom konnte er Unterricht bei dem bekannten Dirigenten Franco Ferrara nehmen. Außerdem erhielt er die Möglichkeit, eine musikalische Sommerschule in Siena zu besuchen, wo er auf den legendären rumänisch-deutschen Dirigenten Sergiu Celibidache traf. „Er war überrascht, dort einen ‚Rumänen‘ anzutreffen und wir freundeten uns schnell an. Ich glaube, er hat mich am meisten beeinflusst, was die Musik betrifft - viel mehr als die Akademie“ erinnert sich Levanon. Ansonsten galt Celibidache als schwieriger Mensch. Unter seinen Schülern war er regelrecht gefürchtet. „Und wenn eine hübsche junge Dame im Saal war, veranstaltete er ein regelrechtes Spektakel, um wahrgenommen zu werden“ amüsiert sich Levanon, der sein Studium bei Celibidache auch im Folgejahr fortsetzen konnte. Die Freundschaft hielt ein Leben lang. Auf seinen zahlreichen Israel-Besuchen war Celibidache stets auch im Hause Levanon zu Gast.

Freiheit und Sicherheit

Als Gastdirigent noch einmal in Focşani auf der Bühne zu stehen, dafür konnte sich Arie Levanon schnell begeistern - auch weil er erfahren hatte, dass es das Orchester „Unirea“, von den Kommunisten nach seiner Emigration nach Galaţi/Galatz verlegt und damit für Foc{ani verloren, wieder gibt! Der deutsche Dirigent Vincent Grüger hatte es 2009 neu ins Leben gerufen. „Für mich ist dieses Orchester eine Überraschung“ freut sich Arie Levanon. Es erinnert ihn an früher, an die 40 Menschen, die sich einfach aus Freude am Musizieren zusammengeschlossen hatten.

Silvia Vrinceanu, die Chefredakteurin des Blattes „Ziarul de Vrancea“, die Levanons Geschichte entdeckt und sich für seinen Besuch eingesetzt hatte, organisierte nach den Konzerten ein Treffen mit jungen Journalisten und Bloggern. Die musikalischen Initiativen der beiden Dirigenten, Levanon und Grüger, sollen die Focşaner zu mehr Eigeninitiative inspirieren, hofft sie. Levanon gibt ihnen seine Erkenntnis mit auf den Weg. „Die Demokratie hat hier vieles verändert - vielleicht nicht genug, mag euch erscheinen. Doch ich fühle mich hier sicher und frei! In Israel hingegen passiert in einer Woche, was in Europa in einem ganzen Jahr geschieht: Krieg. Anschläge. Und du kannst nichts mehr planen. Von heute auf morgen kann in deinem Leben alles anders sein!“