Der belgische Musiker Charles Leirens (1888-1963) kam vergleichsweise spät in aktiven und kreativen Kontakt zur Kunst der Fotografie. Erst im Alter von 45 Jahren begann er damit, Porträtaufnahmen anzufertigen und Persönlichkeiten des europäischen Kultur- und Geisteslebens auf Zelluloid zu bannen. Sechzig seiner in den Jahren 1933 bis 1963 entstandenen Schwarzweißfotografien sind derzeit und noch bis zum 2. Dezember dieses Jahres in den beiden Kretzulescu-Sälen des Bukarester Nationalen Kunstmuseums zu bewundern.
Betritt man die Ausstellung, so wird man zunächst, ohne noch mit der eingehenden Betrachtung einzelner Fotografien begonnen zu haben, von der weithin sichtbaren stilistischen Einheit der Exponate beeindruckt. Aus allen Aufnahmen leuchtet einem das Gesicht entgegen, aus einigen auch die Hände, die Porträtierten kommen bis zur Schulter oder als Halbfigur ins Bild, niemals aber mit ihrer ganzen Gestalt. Oftmals erscheinen sie im Profil, verschiedentlich blicken sie aus der Aufnahme heraus, selten aber direkt auf das Kameraauge, den Betrachter, vielmehr scheint ihr Blick bewusst an ihm vorbeizugleiten, sich an ein imaginäres Objekt in der Ferne zu heften oder sich auch versonnen nach innen zu kehren.
Trotz dieser stilistischen Einheit der fotografischen Porträts stellt sich jedoch niemals der Eindruck der Monotonie und Gleichförmigkeit ein, der einen beim Besuch von Porträtgalerien großer Museen gelegentlich überkommt. Vielmehr gelingt es Leirens durch seine behutsamen Arrangements, jede fotografische Aufnahme in einem neuen Licht erscheinen zu lassen und dabei den Eindruck zu erwecken, als handle es sich um Schnappschüsse aus dem wirklichen Leben, obwohl bei näherer Betrachtung deutlich wird, dass die aus den Porträts sprechende Unmittelbarkeit und Authentizität durch sorgfältige Inszenierung und akribische Positionierung der vor die Linse Gebetenen erst in Wahrheit erzeugt wird.
In manchen Porträts tritt der Aspekt der Inszenierung deutlicher hervor, so etwa in der Aufnahme aus dem Jahre 1959, die Leirens vom 61-jährigen René Magritte angefertigt hat. Der belgische Surrealist beugt sich, den linken Unterarm auf ein Schachbrett gestützt und eine schräg nach oben weisende brennende Zigarette in der rechten Hand haltend, über einen schwarzen Flügel, dessen Deckel das Spiegelbild des Porträtierten wiedergibt.
Im Spiegelbild, dem Bild im Bild, berührt die Zigarettenspitze exakt das Scharnier zwischen Vorder- und Hinterdeckel des Musikinstruments, während eine mit einem Frauenakt bemalte Flasche, das Kunstwerk „Die Dame“ aus dem Jahr 1932, sich in sich spiegelnd, unweit davon auf dem Vorderdeckel steht. Es scheint, als illustriere die Fotografie das künstlerische Credo Magrittes: „Ein merkwürdiges Zusammentreffen von Dingen kann für einen Menschen zur Offenbarung werden.“ Dass Magritte zum ersten Mal auf Flaschen malte, weil er, nach seiner Flucht aus Belgien vor der deutschen Invasion, in Frankreich keine Leinwand zur Verfügung hatte, wirft nochmals ein anderes Licht auf die Porträtfotografie.
Das ein Jahr zuvor entstandene Porträt des 49-jährigen Eugène Ionesco ist ebenso sorgsam für den Blick des Betrachters komponiert, obwohl es den Eindruck erweckt, als sei der an seinem Schreibtisch sitzende rumänisch-französische Dramatiker ganz mit sich und seinen Gedanken alleine. Aus einem nicht sichtbaren Fenster fällt Licht auf ihn, er träumt ins Helle hinaus, und der von einer Zigarette aufsteigende Rauch folgt der Bilddiagonale einer langen Vogelfeder, die aus einer exotischen Schale schräg nach oben ragt. Auf dem Schreibtisch liegen verstreut Briefschaften, Manuskripte, im Hintergrund sind Bücher und ein Theaterplakat sichtbar. Es scheint ein aus der Zeit herausgeschnittener, für die Ewigkeit stillgestellter Moment, der durch den unter der Zigarette ruhenden Aschenbecher Dauer und ironischerweise wieder Zeitlichkeit gewinnt.
Auch eine Deutsche befindet sich unter den von Leirens Porträtierten. Die 1870 in München geborene und 1967 dort auch gestorbene Schriftstellerin Annette Kolb ist als 77-jährige Grande Dame in einem Fauteuil sitzend fotografisch verewigt. Sie trägt einen Hut mit Feder und Schleier, ferner Halstuch und Halskette. Ihren Blick nach innen gekehrt, berühren die Kuppen der drei mittleren Finger ihrer mit Ringen geschmückten linken Hand sacht ihre linke Wange und es scheint, als zitiere diese aristokratische Geste per se ein bedeutsames Thema ihres literarischen Schaffens.
In New York porträtierte Leirens 1945 den in die USA ausgewanderten Marc Chagall. Der 58-jährige französische Maler russisch-jüdischer Herkunft sitzt nachdenklich und versonnen, die Palette in der linken und mehrere Pinsel in der rechten Hand, vor seiner Staffelei, auf der ein Blumenbild steht, an dem er offenbar gerade malt. Der Blick, obschon aus der Aufnahme heraus gewendet, geht ins Leere, als gleite er nach Europa zurück, wohin der aus Witebsk stammende Künstler wenige Jahre später wieder zurückkehren sollte. Chagalls damalige Geliebte Virginia Haggard wurde übrigens 1952 die Ehefrau von Charles Leirens, sie verließ den Maler für den Fotografen und lebte mit diesem in Brüssel bis zu dessen Tod im Jahr 1963.
Neben weiteren Malern wie James Ensor, Paul Delvaux oder Tsuguharu Foujita werden vor allem auch Skulpteure von Leirens ins Bild gerückt: Aristide Maillol mit Vollbart und Baskenmütze vor einem Ölgemälde, Ossip Zadkine vor einem behauenen Kopf im Kykladenstil, Jacques Lipchitz vor einer Fußplastik von der Größe des Konstantinsfußes im Konservatorenpalast in Rom, Charles Leplac vor Gipsmodellen von Pferden mit Reitern, Charles Despiau vor einer Bronzeskulptur.
Komponisten und Musiker wie Béla Bartók und Arthur Honegger, Nadia Boulanger und Pierre Boulez, Robert Casadesus und Rudolf Serkin werden von Leirens, mit oder ohne Instrument, abgelichtet, ebenso die französische Varietékünstlerin und Autorin Colette mit krausem Haar und tief geschminkten Augen sowie der berufsmäßig geschminkte französische Pantomime Marcel Marceau in bekannter Pose.
Neben Philosophen wie Gaston Bachelard sind es insbesondere Schriftsteller, denen Leirens’ Interesse gilt: der konzentriert in ein Notizheft schreibende Jean Cocteau, die prüfend und neugierig in die Kamera blickende Lucienne Desnoues, der auf einer Treppe an einem Seinequai sitzende und listig schmunzelnde Philippe Soupault, der im Profil vor heller Leinwand abgelichtete Paul Valéry, der entspannt zurückgelehnte Wystan Hugh Auden, der vor einem aufgeschlagenen Buch sitzende und zur Seite schauende Jules Romains, der kühl und distanziert auf die Kamera herabblickende André Gide und der den Betrachter fixierende André Malraux mit seinem auf den gefalteten Händen aufruhenden Gesicht im Halbschatten. So sind in dieser Ausstellung noch viele andere Gesichter zu entdecken, die Charles Leirens meisterhaft ins Bild gerückt und für das kulturelle Gedächtnis aufbewahrt hat.