„Da sah ich sie, wie ich sie bis dahin niemals gesehen hatte: Sie wölbte sich gleich hinter der Böschung des Feldwegs empor und flutete in mächtigen flachen Sätzen bis zum Horizont – die Balka, wie wir die Steppe nannten“, so der Auftakt der Erzählung „Am Todestag meines Vaters“. Obwohl dieses Ereignis viele Jahre zurückliegt, ist es für den Ich-Erzähler so präsent, als würde er es augenblicks erleben: wie ihn sein Vater auf ein Pferd hebt und er als Dreijähriger die Steppe aus einer anderen Perspektive wahrnimmt.
Ein Moment voller Intensität. Die Weitläufigkeit der Landschaft prägt sich ein, wird zur Seelenlandschaft und führt zum freien, offenen Blick aufs Leben. Die Geschichte ist in wenigen Sätzen umrissen: Der Vater, der bessarabiendeutsche Pferdezüchter, wird „in dem Land zwischen den Flüssen Pruth im Westen und Dnjestr im Osten“ von allen geschätzt. Von ihm bekommt der Sohn einen Hengst – „an Kraft und Schönheit“ nicht zu übertreffen. Wotan soll das Pferd heißen, schicksalhaft ist die Stunde seiner Taufe: „Jetzt haben sie also zu allem anderen auch mit dem Krieg begonnen. Nicht weit von hier. In Polen …“ Der Hengst erschlägt den Vater, der Sohn ersticht den Hengst. Weit über diese Familienszene hinaus reicht die Symbolik des Geschilderten und bestimmt den weiteren Gang der Handlung. Plastisch wird uns vor Augen geführt, wie das Tun eines Einzelnen das unheilvolle Geschehen, das über Europa rollt, nicht aufhalten kann: Ignoranz und Fanatismus, Groll und Gewalt verwüsten Landschaften – außen wie innen. Der Ich-Erzähler zieht durch „verbrannte Gärten und Felder“ und sieht in „verängstigte Gesichter“. In Australien gestrandet, kommt er zur Ruhe. Auf einer Farm setzt er die „Lebensarbeit“ seines Vaters fort – und scheint glücklich zu sein.
Etwas so sehen, wie man es bis dahin noch nicht gesehen hat – das war stets Antrieb und Motivation in Hans Bergels Schaffen. Immer wieder neu anfangen – das gilt auch für die Erzählungen des jüngst erschienenen Erzählbandes. Erneut beschäftigen den Autor die Verheerungen des 20. Jahrhunderts. Wie in der Einführung des Bandes klargestellt wird, sollte nach den beiden Romanen „Wenn die Adler kommen“ (1996) und „Die Wiederkehr der Wölfe“ (2006) ein abschließender dritter Band als „Finale“ folgen. Während der erste Band die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis 1939, der zweite die Zeit vom Ausbruch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs umfasst, sollte der letzte Roman die Zeit von 1945 bis zu den Umbrüchen 1989/90 fokussieren. Es bleibt ein Rätsel, weshalb stattdessen nun ein Erzählband vorliegt. Am 26. Fe-bruar 2022 ist der Autor von mehr als 50 Büchern in seinem 97. Lebensjahr verstorben. Sein Verlag informiert, er habe zu den „Gründen für die Verweigerung der abschließenden Arbeit an Band III der Trilogie“ geschwiegen. Ein Schweigen kann aber auch beredt sein und das Aufdecken-Wollen von Gründen oder Hintergründen überflüssig machen. Angemessener ist es, sich in die zehn Erzählungen zu vertiefen, die Hans Bergels gesamtes belletristisches Themenspektrum noch einmal entfalten.
Die Geschichte des Kustos Klaus-Bastian Curtius geleitet uns in die 80er Jahre, eine Zeit, in der diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs Bespitzelung zur Tagesordnung gehört. Curtius restauriert im Schloss-Museum Hellberg (sic!) mit „unbeirrbarer Hingabe“ alte Kunstwerke. Unter seinen Händen wird Vergangenes zum gegenwärtigen Erlebnis: „Was ist der Mensch ohne die Kenntnis seines Gestern?“ Durch einen Sturz in den Schlosshof soll er ums Leben gekommen sein, jedoch deutet die Spurensuche von Bergels Alter Ego, Harald von Blomberg, auf eine andere Todesart hin. Gewidmet ist die Geschichte dem 1982 viel zu früh aus dem Leben gerissenen Museologen Rolf Schuller.
Ein Künstler steht auch im Mittelpunkt der Erzählung „Das Lächeln des Koros oder Gespräch im Bis-tro“. Erzählt wird die Geschichte eines Russen namens Orjol (russ. „Adler“), der in einem Lager des russischen Komitees für Staatssicherheit (KGB), „einer schauerlichen Einrichtung des Moskauer Innenministeriums“, einen Jüngling aus Lindenholz schnitzt. Diesen lächelnden „Koros“ schenkt er seinem Mithäftling an Heiligabend, kurz danach stirbt Orjol. Doch die Reise des „Weihnachtsjünglings“ geht weiter und findet sich in dem „Lächeln der Aufrechten, der Kühnen mit dem immer neuen und reinen Mut zum Aufbruch“ wieder. Ein Lächeln, das es kaum noch gibt! Den Grund dafür erfahren wir in der Erzählung „Die Wandlungen des Dr. Fulda oder Die Stunde der Schlangen“: „Wir sind moralisch weder entwicklungsfähig noch willig“ – eine traurige Zeitdiagnose, die sich aus der Lebensgeschichte eines Kunstwissenschaftlers ableiten lässt. Im Rumänien der Nachkriegszeit bleibt Fulda nichts erspart – Verfolgung und Verrat, Bespitzelung und Inhaftierung, Mittäterschaft und Rache. Das Bitterste ist: der Selbstverrat, der am Ende seiner Höllenfahrt steht.
Gibt es für das Humane einen Zufluchtsort? Trotz der Abgründe, die sich in Bergels Kosmos auftun, findet sich darin auch Zuversicht und Hoffnung, liest man die feinsinnig komponierten Erzählungen „Die Rückkehr des Rees“, die Geschichte eines Bildhauers, der sich vom Donau-Delta Inspiration erhofft, oder „Die längste Nacht des Jahres“, die von Mut und Freundschaft Zeugnis ablegt, oder die „Die Wiederbegegnung mit der Sängerin“, die den Straßenmusikern aus allen Herren Ländern ein Denkmal setzt und in dem einmaligen Gesang einer Grille kulminiert. Auch die Begegnung mit einem Leoparden in der gleichnamigen Erzählung, mit der der Band schließt, zeugt von Menschlichkeit – einem Raubtier kommt diese zugute. „Und daher war die Niederschrift dieser Chronik erforderlich“, so der letzte Satz in Bergels 2011 erschienenen Erzählband „Die Wildgans“, einem Band, der 2021 in der Edition Noack & Block neu aufgelegt worden ist. Die Aussage gilt auch für Bergels finalen Erzählband „Die Stunde der Schlangen“. Hans Bergel war der Chronist eines erschütternden Jahrhunderts.