Die umformende Kraft

Der Priester-Schriftsteller Sebastian Rieger stellt uns in seinem Buch „Der Gemsenhirt“ einen jungen Mann vor. Dieser führte ein ausgelassenes, wildes Leben und war der Tonangeber bei den wüsten Unterhaltungen in der Gemeinschaft seiner Zechkumpane. Das Wirtshaus war seine Kirche, beten konnte er nicht, dafür umso kräftiger fluchen. Er stellte jeder Schürze nach, kurz und gut, er war ein Ausbund an schlechten Eigenschaften. Da machte er die Bekanntschaft eines Mädchens, das genau das Gegenteil von ihm war. Sein Herz entbrannte in Liebe zu ihr. Er hielt um ihre Hand an. Doch das Mädchen lehnte seinen Antrag ab, mit der vernünftigen Begründung, dass es mit einem solchen Wildling nicht leben könne. Er versprach hoch und heilig, sich zu bessern. Das Unglaubliche geschah. Von der Stunde an mied er Wirtshaus und Zechkumpane, belästigte kein Mädchen mehr, ging an Sonntagen in die Kirche, ließ das Fluchen sein und war nie mehr in eine Schlägerei verwickelt. Alle Dorfbewohner schüttelten verwundert den Kopf und fragten sich: „Ist das noch derselbe ungehobelte wüste Kerl? Er scheint ein ganz anderer geworden zu sein.“ Er war auch ein anderer geworden. Was gab ihm die Kraft zur Änderung seines Lebens? Es war die Liebe! 

Hier stoßen wir auf eine der beglückendsten Wahrheiten: Liebe ist die energiegeladenste Kraft des Menschen zum Guten! Liebe kann den Menschen so umformen, wie es keine andere Kraft der Welt vermag. Allerdings bringt das nur die echte Liebe fertig. Ihre Quelle ist Gott. Es gibt auch eine unechte Liebe, sie ist auf Erden weit verbreitet. Sie entspringt nicht aus Gott, sondern aus dem sinnlichen Begehren und führt in die entgegengesetzte Richtung: in ungezügelten Genuss, Ehebruch und andere Laster. Sie belädt den Menschen mit Schuld. Zwar versuchte der Minnesänger Gottfried von Straßburg diese Liebe zu entschuldigen: In seinem Werk „Tristan und Isolde“ bewirkt ein Zaubertrank, dass beide ungewollt in heftiger Liebe zueinander entbrennen und einen Ehebruch nach dem andern begehen. Unbeherrschte Sinnengier ist die Quelle der „unechten Liebe“. Das Leben entzaubert sie schnell. Ihren Weg säumen bittere Enttäuschungen, Ehescheidungen, zerstörtes Familienglück und Krankheiten.

Wahre Liebe offenbart immer wieder ihre umformende Kraft: In einer Großstadt lebte ein Ehepaar. Der Mann war grob, jähzornig, und vertrank den größten Teil seines Arbeitslohnes. Für die Frau war das Leben an seiner Seite die Hölle auf Erden. Doch sie hielt tapfer aus. Wieder einmal hatte er sie in seinem Jähzorn geschlagen und ging davon. Nun war er neugierig, was seine misshandelte Frau tun werde. Er lauschte an der Tür. Da hörte er sie zum Kinde sagen „Beten wir ein Vaterunser für unseren guten Vater“. Dieses Wort traf den lauschenden Gatten wie ein Keulenschlag. Dieser wahren Liebe musste sich sogar der rohe Mann beugen. Er trat ins Zimmer, warf sich seiner Frau zu Füßen und gelobte, ein anderer, ein neuer Mensch zu werden. Er wurde es auch. Wann immer sich der „alte Mensch“ in ihm regte, schaute er nur auf seine Frau und er spürte, wie die Kraft ihrer echten Liebe auf ihn übersprang und ihn auf dem rechten Weg hielt.

Man hat schon oft die Liebe mit dem Feuer verglichen. Ein treffender Vergleich. Kaltes Eisen lässt sich nicht hämmern. Der Schmied legt es ins Feuer bis es glühend wird und gleichsam die Natur des Feuers annimmt. Glühendes Eisen lässt sich mit Leichtigkeit hämmern und formen. So ähnlich ist es mit uns Menschen: Menschenherzen kann man nicht mit harten Hammerschlägen der Vorwürfe oder mit kaltem Moralisieren ändern und umformen. Um ein Menschenherz biegen, das heißt umformen zu können, muss es im Schmiedefeuer der Liebe weich gemacht werden. Nur die Kraft der „wahren Liebe“ kann Menschenherzen zum Guten umformen.

Nur wahre, echte Liebe strömt diese umformende Kraft zum Guten aus. Jetzt verstehen wir auch besser, warum Christus die Liebe zu Gott und zum Nächsten als das höchste und wichtigste Gebot hinstellt. Nicht die Allmacht nahm er zu Hilfe, um die Menschen zu ändern und umzuformen. Er verließ sich auf die umformende Kraft seiner Liebe. All die Menschen, die durch die Jahrhunderte seine Liebe weitertrugen, schöpften die geistige Kraft aus diesem Feuerherd der Liebe. Das ist der wahre Zaubertrank, der die umformende Kraft zum Guten in sich birgt.