Von Jandl zur neuen Frise

Bild: pixabay.com

Aus Unzufriedenheit kann Großes entstehen. Das ist hier nicht der Fall. Bei mir führt sie oft dazu, dass ich das Gefühl habe, in meinem Leben dringend etwas ändern zu müssen und in Aktivismus verfalle. Langfristig kommen dann Dinge wie das Lernen einer neuen Sprache heraus, mittelfristig entstehen zum Beispiel längere Texte. Manchmal aber müssen kurzfristige Veränderungen her, oft weniger durchdacht bis dumm, und die einfachste Lösung dafür besteht bei mir seit zwei Jahren darin, mir die Haare schneiden zu lassen – der Grund, weshalb sie seitdem allmählich immer kürzer geworden sind und ungefähr so viele unprofessionelle Menschen etwas zu meinem Äußeren beigetragen haben wie ich Freunde habe. Vor Kurzem hatte mein Schopf wieder eine Länge erreicht, die etwas zum Stutzen hergab. Nun muss man wissen, dass die Rahmenbedingungen für derartige Spontanhaarschneideaktionen oft suboptimal sind, die Zeit gewöhnlich fortgeschritten und meist Alkohol im Spiel ist.

Vergangenes Wochenende war es wieder soweit: Ich fragte beim Zusammensitzen mit den Nachbarn im Hof, wer bereit sei, einen Rasierapparat und sein Geschick in den Dienst einer guten Sache zu stellen. Das Gerät aufzutreiben, war schnell erledigt, wegen der geleerten Bierdosen hatten meine Nachbarinnen aber statt angetrunkenem Mut eher Sorge, mich zu verunstalten. Dabei ist doch selbstverständlich, dass ich mich niemals über das Ergebnis beschwere! Mehr Courage bewiesen wieder einmal die Jüngeren.

Die beiden 12-jährigen Töchter der Damen nahmen sich also der Sache an – sie waren auch die einzigen ohne Ethanolhintergrund. Die eine leuchtete mit Handytaschenlampe die Szene heller aus, als meine Idee war, noch in der Nacht eine neue Frisur zu bekommen, die andere nahm routiniert den Rasierapparat in die Hand, vergewisserte sich, mich ungefähr verstanden zu haben und legte los. Das Ergebnis war zwar in etwa, wie ich meine Vorstellungen formuliert hatte, im Spiegel stellte sich der beidseitige Undercut aber anders dar als erwartet: dunkles Haar, Seitenscheitel, kurze Haare und an den Seiten rasiert... Genau! Meine erste Assoziation war das Gedicht „wien:heldenplatz“ von Ernst Jandl und dessen Wortneuschöpfung zur Frisurbeschreibung, über die ich vor einem halben Jahr im Seminar so herzlich gelacht habe: „stirnscheitelunterschwang“.

Schade, dass von den anwesenden Leuten niemand Deutsch sprach. Obwohl ich nicht mal das richtige Geschlecht habe und sowohl der Scheitel als auch die politische Einstellung bei mir auch auf der entgegengesetzten Seite sind, rief ich die Jugendliche nochmal zurück und bat sie um Nachbesserung. Meine Begründung brachte auch sie zum Lachen: Ich sah aus wie Baby-Adolf. Was macht man dann? Ankleben geht schlecht. Also weitermachen und aus einem abrasierten Streifen über dem Ohr eine abrasierte Seite machen. Wenn das Stehengelassene nun noch eine bunte Farbe bekommt, ist politische Verwechslungsgefahr endgültig ausgeschlossen – aber das hebe ich mir für weitere Spontanaktionen und Schnapsideen auf.