Vorrang geben

Der Weg zur Arbeit in Bukarest führt mich jeden Tag über die Piata Victoriei. Genauer gesagt, fahre ich mit dem Fahrrad auf dem breiten Gehsteig vor dem Regierungssitz im Palatul Victoria vorbei, auf dem sich seit einigen Jahren ein Fahrradstreifen befindet, der von zwei Zufahrten zum Gebäude gekreuzt wird.

Neulich, als ich nachmittags nach Hause fuhr, hat mir eine schwarze Limousine böse die Vorfahrt geklaut. Wahrscheinlich saß irgendein Politiker oder Beamter am Steuer, der es furchtbar eilig hatte. Die Schranke in der Einfahrt öffnet sich. Das schwarze Fahrzeug rollt langsam vor, bleibt fast stehen. Der Fahrer schwenkt seinen Blick von rechts nach links. Die Straße ist frei. Er sieht mich mit dem Fahrrad kommen. Nur die Sonnenbrille in seinem Gesicht verhindert Blickkontakt. Trotzdem fährt er los, quer über die Pia]a Victoriei. Mir bleibt nichts anderes übrig als abzubremsen.

Anstatt mir die Vorfahrt zu klauen, hätte er besser Folgendes gemacht: Er hätte angehalten und wäre ausgestiegen. Er hätte sich bedankt, dass ich mit dem Fahrrad unterwegs bin und die ohnehin schon schlechte Luft in Bukarest nicht noch mehr belaste. Er hätte sich erfreut gezeigt, dass ich etwas für meine Gesundheit tue. Er hätte sich entschuldigt, dass er mit dem Auto unterwegs ist. Als Rechtfertigung hätte er seinen vollen Terminkalender angeben können, was ich natürlich akzeptiert hätte. Zu guter Letzt hätte er mich noch gefragt, wie ich mit seinem Chef, dem Premierminister, zufrieden bin und ob ich nicht ein paar Verbesserungsvorschläge für seine Politik habe. Er hätte mir zugehört. Erst nachdem ich die andere Straßenseite sicher erreicht gehabt hätte, wäre er weitergefahren.

Zugegeben, niemand hätte das wirklich von einem Politiker erwartet. Aber zumindest die Regeln, die sein Chef selbst aufgestellt hat, hätte er respektieren und mir den Vorrang geben müssen. Doch selbst das ist bekanntlich zuviel verlangt. Deswegen hatte ich meine Finger schon an den Bremsen, als ich ihn kommen sah.