Wenn betreute Jugendliche flügge werden

Verein für verlassene Kinder in Rumänien bleibt ein Zuhause für ehemalige Zöglinge

Sonja und Marcel bei der Planung neuer Taschen

Stofftaschen für den Valentinstag, hergestellt im Atelier „Diversis“.
Fotos: die Verfasserin

Sonja Kunz’ Begeisterung wirkt ansteckend: Alle paar Meter treffen wir eine Mitarbeiterin oder ein Kind, einen Freiwilligen oder einen Jugendlichen. Dann werden erst einmal die neuesten Neuigkeiten ausgetauscht, Fragen und Probleme geklärt, aber es wird auch eine Menge gekichert. So vergehen schon mal einige Stunden, bevor wir alle drei Häuser des Vereins „Für verlassene Kinder in Rumänien“ besucht haben. Im letzten Jahr feierte der Verein in Weidenbach/Ghimbav sein 20-jähriges Jubiläum. Eine lange Zeit, doch von Müdigkeit keine Spur. Im Gegenteil: „Dieses Jahr wollen wir endlich die Bauarbeiten am Haus Salix beginnen. Dafür suchen wir derzeit noch einen Architekten“, erklärt die Leiterin Sonja Kunz, die 1994 nach Weidenbach kam. Das Haus Salix, welches der Verein 2011 als drittes Haus gekauft hat, befindet sich direkt neben der „Casa Prichindel“ und unweit des Hauses Livezii, benannt nach dem Obstgarten, der hier einmal stand. Hier soll dieses Jahr weiterer Wohnraum für Jugendliche entstehen.

Ein Nest nicht nur für Küken

Denn was einst mit der Aufnahme und Fürsorge von drei kleinen Kindern begann, ist heute eine große Gemeinschaft. Die erste Generation ist mittlerweile erwachsen, manche sind verheiratet und arbeiten – ganz in der Nähe, übers ganze Land verteilt, aber auch in Deutschland und der Schweiz. Die Großen ziehen allmählich aus dem Heim aus und neue Kinder ziehen ein. Doch pragmatisch-kühl geht es dabei nicht zu. Die Begleitung der jungen Erwachsenen bei ihren Schritten in die Selbstständigkeit ist mittlerweile ein selbstverständlicher Grundsatz des Heims. Bei Außenstehenden stoße dies allerdings häufig auf Unverständnis und auch sie habe diese Tatsache lange unterschätzt, erklärt Sonja: „Das ist etwas, dem ich mir zu Beginn meiner Arbeit gar nicht bewusst war – mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter hört eine Elternbeziehung ja gewöhnlich nicht einfach auf. Mit finanzieller Unterstützung ist es nicht getan. Ein Zuhause ist ja da, wo du dein Nest hattest, aber auch wo sich die Eltern auf dein Kommen freuen, dich erwarten. Und das nicht zu haben?“ Deswegen sind die Betreuerinnen und Betreuer natürlich weiterhin da, die Türen der Häuser stehen offen, aber auch die Ohren – für alle Arten von Fragen und Probleme.

„Die Kinder werden geliebt, auch wenn wir nicht Mutter und Vater ersetzen können“, ergänzt Sonja. Der 22-jährige Marius, der in Deutschland in einem Restaurant arbeitet, hat seine freien Tage genutzt, um sein altes Zuhause zu besuchen. Hier kann er zur Ruhe kommen, Freunde treffen, aber auch selbst mit anpacken, wo gerade Hilfe gebraucht wird. Anderen Jugendlichen, die aus finanziellen oder persönlichen Gründen nicht allein leben können oder wollen, stehen im Haus Salix in Weidenbach  und in Kronstadt/Braşov betreute Wohnungen zur Verfügung. Hier leben die insgesamt acht Jugendlichen im Alter von 18 und 23 Jahren in Wohngemeinschaften zusammen. Ein nicht immer leichtes Alter – klar, dass das manchmal chaotisch zugeht. Dann ist die Katze in der Wohnung, übergibt sich in der Ecke, keiner ist zu Hause und wer kümmert sich dann um den Teppich? „Es ist mitunter eine ganz praktische Arbeit“, schmunzelt Sonja.

Erst das Dach und dann die Tür

Die Sonne verbreitet Frühlingsstimmung. Apfelkauend statten wir allen Häusern mit den Gärten und den Hühnern, den Spielzimmern und den Bewohnern, einen Besuch ab. Aber Sonja erzählt auch von der Arbeit außerhalb dieser geschützten Wände. Ein wichtiges Ziel des Vereins sei es, den Kindern einen Schulabschluss zu ermöglichen, etwa durch das Angebot einer Aufgabenhilfe. Komplizierter wird es bei den zahlreichen Familien im zwanzig Kilometer entfernten Roma-Dorf Dumbrăviţa/Schnakendorf. Die hauptsächliche Notversorgung der Roma-Familien ist eine seit über zehn Jahren fortwährende Tätigkeit des Vereins. Unterstützung erhalten auch hier vorrangig Familien, die ihren Kindern den Besuch der Schule trotz der schwierigen Bedingungen ermöglichen. Es ist eine nie enden wollende Arbeit, die viel Kraft und Durchhaltevermögen für die über 80 Familien erfordert. „Wir geben Überlebenshilfe, Brot, Schuhe, wir übernehmen auch oft die Arztrechnungen oder Reparaturen am Haus.

Wir bezahlen ein Dach, das eingefallen ist, und nachher fällt die Tür zusammen. Es ist immer knapp zum Überleben“, meint Sonja und ergänzt: „Ich kann verstehen, dass Leute sagen, das sei nicht nachhaltig und sie haben recht.“ Doch als kleiner Verein sei die Arbeit kaum zu stemmen. Ausführliche Projektanträge nach komplizierten Verfahren müssten geschrieben werden. Die Unterstützung von Projekten sei in der Regel auf ein, zwei Jahre begrenzt und eine weitere Finanzierung müsse schon im Antrag sichergestellt werden. Dieses Problem betreffe zahlreiche Vereine in ganz Rumänien. „Man bräuchte ein engmaschiges Netz von Sozialarbeitern, von Mediatoren.“ Dennoch will Sonja diese Nothilfe nicht aufgeben: „Mir ist das alles sehr bewusst, aber es lohnt sich, wenn ein paar der Kinder die Schule fertig machen“.

Von Brotkorb bis Waschtasche

Durch den Schweizer Kohäsionsfonds hat der Verein eine Sozialwerkstatt aufbauen können. Vielversprechend ist nun der Blick in das Atelier „Diversis“, welches offiziell am 1. August 2013 eröffnete. Die Wände schmücken zahlreiche bunte Fadenrollen und die Regale sind voller Stoffe. Gerade bringt der kleine Ionuţ einen Beutel neuen Stoffs, den er auf dem Markt gekauft hat. Anerkennend schaut Hausschneider Marcel auf die Materialangabe des bunten Schals: 100 Prozent Kaschmir steht dort. Nicht schlecht. Doch dann stutzt er: Unter dem Schriftzug, etwas kleiner geschrieben, steht nur noch etwas von Polyacryl und Polyester. Armer Ionuţ, doch der Schal ist dennoch schön.

Die Werkstatt bietet seit 2013 für die Bewohner die Möglichkeit kreativer Selbstbetätigung jeder erdenklichen Art. Hier wurde bereits repariert, getöpfert und mit verschiedensten Materialien gebastelt. In letzter Zeit wurde vor allem fleißig genäht: hübsche Taschen, Federmappen und Schürzen, „alles Unikate“, erklärt Sonja stolz. Mit Marcel, dem passionierten Hausschneider, der hier seit zwei Jahren arbeitet, besehen wir die neuesten Produkte: Für den baldigen Valentinstag sind bestickte Karten und Taschen in Herzform entstanden. Doch das Atelier „Diversis“ soll nicht nur ein kreativer Ort sein. Eine neue Idee rückte zusehends ins Blickfeld: Die Schaffung geschützter und bezahlter Arbeitsplätze für die Bewohner des Heims oder der Umgebung, die es, bedingt durch ihren Ausbildungsstand oder aufgrund von Krankheit, schwerer auf dem Arbeitsmarkt haben. Mittlerweile arbeiten hier Roxana, Geta und Mihaela in Halbtagsstellen: Sie sind Näherinnen, Schneiderinnen, aber auch ein bisschen Modedesignerinnen. Sonja selbst informiert sich regelmäßig über die Welt der Mode und ermuntert auch die anderen: „Schau die Trends an – nicht, dass wir mit Hellgelb eine Saison zu spät kommen!“

Auch das Atelier wird erwachsen. Noch läuft der Markt in Rumänien nur schleppend an, das meiste verkauft sich über Beziehungen, Freunde und Bekannte, sowohl im In- als auch im Ausland. Doch im Internet findet sich bereits ein ausführliches Portfolio. Und auch eine Verkaufsecke im Atelier soll bis zum Sommer diesen Jahres eingerichtet werden, welche das Sortiment vorstellt, und dann hoffentlich noch mehr Käufer findet. Denn auch hier gilt: Die Förderung läuft nur noch bis Juni, dann muss es wahrscheinlich ohne weitergehen. Daher brauche es jetzt Handelsgeschick und Werbung. Sonja ist stolz: „An sich ist das Projekt doch durch und durch klasse. Die Körbchen etwa werden hier oder im Roma-Dorf handmade produziert, fair bezahlt und das Projekt schafft Arbeitsplätze.“ Zusehends gäbe es mehr Leute, die das auch zu schätzen wissen und fähig und bereit wären, den höheren Preis zu bezahlen. Einige Abnehmer, wie etwa ein Restaurant, das Tischdekorationen bestellte, gab es schon. Solche fixe Orte, an die das Atelier zukünftig liefern kann, soll es – geht es nach Sonja – in Zukunft noch mehr geben. Doch auch bis es soweit ist, wird genäht und geschneidert, was das Zeug hält.