Wie sich Putins Macht über Europa verringern lässt

Ein Kommentar von Daniel Gros

Daniel Gros ist Wirtschaftswissenschaftler und Politologe. Er studierte Ökonomie an der Universität Rom und erlangte 1984 seinen Ph.D. an der University of Chicago. Derzeit ist er Leiter des Centre for European Policy Studies (CEPS). Sein Forschungsschwerpunkt ist EU-Wirtschaftspolitik, insbesondere die Wirkung des Euro auf Kapital- und Arbeitsmärkte, sowie die internationale Rolle des Euro, vor allem in Zentral- und Ost-Europa.
Foto: Heinz Tesarek/Wikimedia

Luftaufnahme der Pioneering Spirit, das größte Schwerlast- und Pipeline-Verlegeschiff der Welt, beim Bau von Nord Stream 2. Rund um die Uhr werden Rohre von Versorgungsschiffen, die hier auf beiden Seiten der Pioneering Spirit zu sehen sind, auf das Schiff geliefert.
Foto: Axel Schmidt/Nord Stream 2

Der LNG Tanker Arctic Princess mit den charakteristischen kugelförmigen Tanks, vor Hammerfest in Norwegen. Flüssiggastanker sind eine flexible Alternative zum Transport in Pipelines.
Foto: Wikimedia

Während die USA die Bemühungen zur Verhinderung eines russischen Einmarschs in der Ukraine anführen, ringen die Vertreter der Europäischen Union die Hände. Europa fehle nicht nur am Tisch, so beschweren sie sich; seine Sicherheit stünde auf der Speisekarte.

Doch ist die EU für den Umgang mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht gerüstet. Sie strebt danach, eine postmoderne „Soft Power“ zu sein, und Putin kennt nur harte Macht. Und über welche Soft-Power-Instrumente auch immer die EU verfügt: Sie kann nicht einmal versuchen, sie einzusetzen, denn sie ist noch immer vom russischen Gas abhängig, um Licht und Heizungen der Europäer am Laufen zu halten.

Die jüngst fertiggestellte Pipeline Nord Stream 2 – die russisches Gas über die Ostsee direkt nach Deutschland bringen soll – hat als diplomatische Verhandlungsmasse beträchtliche Aufmerksamkeit erregt. Während einige argumentieren, dass das Projekt Russland zu viel Macht über Europa verschafft hat, hoffen andere, dass die Drohung mit einem Verlust der noch nicht in Betrieb genommenen Pipeline Russland von einem Einmarsch in der Ukraine abhalten kann.

In diesen Diskussionen richtet sich der Fokus zu oft auf die angeblich von Deutschland, dem wichtigsten europäischen Fürsprecher des Projekts, getragene Verantwortung. Doch ergibt dies angesichts der stetigen Integration der nationalen europäischen Gasmärkte wenig Sinn. In einem integrierten Markt sollte jede Maßnahme auf EU-Ebene erfolgen.

Zudem ist es bei den Überlegungen über die zu treffenden Maßnahmen wichtig, sich bewusst zu machen, dass Nord Stream 2 nicht annähernd so bedeutsam ist wie häufig dargestellt. Langfristig wird die Pipeline kaum Auswirkungen auf die Sicherheit der europäischen Energieversorgung haben.
Zunächst einmal ist es unwahrscheinlich, dass Nord Stream 2 nach ihrer Inbetriebnahme zu einer deutlichen Erhöhung der russischen Erdgasimporte nach Europa führen wird. Sie wird Russland lediglich in die Lage versetzen, seine Nutzung der durch die  Ukraine führenden Erdgasleitungen zu reduzieren und so die Transitgebühren zu senken, die einen wichtigen Teil des Haushalts der Ukraine ausmachen.

Allgemeiner wird die Bedeutung strategischer Gasleitungen durch eine Umstellung in Richtung des Transports von Kohlenwasserstoffen in Form von Flüssigerdgas (LNG) untergraben. Die LNG-Exporte aus den USA nach Europa haben viel Aufmerksamkeit erregt, doch sind sie lediglich Teil eines umfassenderen Trends. Es wird weltweit inzwischen mehr Gas per Schiff von einer Region in die andere transportiert als per Pipeline.

Der Transport von LNG hat an Beliebtheit gewonnen, weil, sobald das Gas in einem Spezialtanker gelagert ist, die Entfernung, die dieser zurücklegen muss, relativ egal ist. Infolgedessen sind die Preise in Europa und Asien in normalen Zeiten stark korreliert. Die Transportkosten für LNG bleiben höher als die für Öl, und die Liquidität des LNG-Markts – und damit seine Fähigkeit, auf kurzfristige Nachfrageschwankungen zu reagieren – bleiben begrenzt. Doch der Trend hin zu einem integrierten Weltmarkt ist eindeutig.

Für den größten Teil Europas ist russisches Gas heute noch immer etwas billiger. Doch der politische Preis der Abhängigkeit – Russland bleibt größter Erdgasgaslieferant der EU – ist inzwischen nicht mehr hinnehmbar. Die gute Nachricht ist, dass Europa in der Lage ist, ausreichend LNG zu importieren, um den Verlust von russischem Gas auszugleichen. Die schlechte Nachricht ist, dass es einige Zeit dauern wird, seine diesbezüglichen Kapazitäten zu mobilisieren. Wie also kann sich die EU gegen das kurzfristige Risiko absichern, dass Russland aus politischen Gründen Lieferungen zurückhält, und sich sogar so aufstellen, dass sie den russischen Gassektor mit Sanktionen belegen kann?

Ein erster, einfacher Schritt bestünde darin, die Gaslieferanten zu verpflichten, ihre Lagerbestände zum Ende des Sommers aufzufüllen. Dies wäre zwar nicht in deren wirtschaftlichem Interesse, doch würde es die Sicherheit der europäischen Energieversorgung erhöhen. Besondere Aufmerksamkeit wäre dabei den von der russischen Gazprom gehaltenen Lagereinrichtungen zu widmen, die im vergangenen Jahr weniger stark aufgefüllt wurden als andere gewerbliche Lagerstandorte, was die EU in diesem Winter anfällig für akute Verknappungen machte.

Doch ist mehr erforderlich. Europa sollte zudem eine europäische strategische Gasreserve (ESGR) anlegen, die ausreichende Vorräte für den Verbrauch von etwa drei Monaten umfasst. Indem sie der EU einen Puffer verschafft, um mehr Gas von anderen Produzenten zu erwerben, würde eine strategische Reserve Europas Anfälligkeit für kurzfristige Störungen, einschließlich des potenziellen Verlusts russischer Lieferungen, verringern und seine geopolitische Stellung stärken.

Eine ESGR lässt sich nicht über Nacht anlegen und würde einige anfängliche Investitionen erfordern. Doch ließe sich innerhalb weniger Jahre ein beträchtlicher Gasvorrat anlegen, und die Kosten wären, insbesondere in Zeiten ultraniedriger Zinsen, nicht allzu hoch (die EU kann noch immer zehnjährige Anleihen mit einer Verzinsung von wenigen Basispunkten ausgeben). Schätzungen auf Basis der bestehenden Gasreserven legen nahe, dass die Einrichtung einer ESGR etwa zehn Milliarden Euro kosten würde. Bei einer Tilgung über zehn Jahre wären das eine Milliarde Euro pro Jahr – was etwa 0,5 Prozent des EU-Haushalts entspricht und eindeutig bezahlbar wäre.

Auch die Ukraine würde von einer ESGR profitieren. Schon jetzt kann das Land über die Bruderschaft-Pipeline, die normalerweise Gas aus Russland nach Europa befördert, dank der Rückstromfähigkeit der Pipeline Gas aus Europa erhalten. Ohne eigene Reserven jedoch kann die EU nicht viel für die Ukraine tun, wenn Russland seine Drohungen wiederholt, die Gaslieferungen an die Ukraine einzustellen.

Darüber hinaus würde eine derartige Reserve angesichts der starken russischen Abhängigkeit vom europäischen Markt eine günstigere einseitige Abhängigkeit erzeugen. Die Erlöse aus Gasexporten nach Europa machen einen erheblichen Anteil der russischen Gesamt-Exporterlöse und der Staatseinnahmen des Landes aus, aber nur einen winzigen Bruchteil der europäischen Wirtschaft.

Bei Erteilung einer Betriebsgenehmigung für Nord Stream 2 – eine Option, die nur in Betracht gezogen werden sollte, wenn ein Angriff auf die Ukraine unterbleibt –, würde zugleich Russlands Abhängigkeit von Europa als zuverlässigem Kunden zunehmen. Russland könnte diese Abhängigkeit nur verringern, indem es kostspielige Einrichtungen zum Export von LNG dichter an seinen Gasfeldern in der Nähe des Polarkreises errichtet oder indem es in eine sogar noch teurere Pipeline nach China investiert.

Die Krise in der Ukraine hat gezeigt, dass die EU trotz allen Geredes über eine „strategische Autonomie“ stark von den Sicherheitsgarantien der USA abhängig bleibt. Das wird sich so schnell nicht ändern. Doch indem es die Sicherheit seiner Energieversorgung erhöht, kann Europa zumindest seine Fähigkeit zum Einsatz der wenigen ihm zur Verfügung stehenden Soft-Power-Instrumente steigern.

Aus dem Englischen von Jan Doolan