ADZ-Reihe: Wertvolle Jugendbücher Gefangen im Rad der Hoffnungslosigkeit

„Heim“ Mirijam Günter dtv Verlag ausgeliehen in der Bibliothek des Goethe-Instituts Bukarest, Calea Doroban]i 32/Pavilion, www.goethe.de/bukarest Siehe auch: www.mirijam-guenter.de


Wieder ein neues Heim: Und mit Gewissheitheit wieder kein Daheim, kein Zuhause, kein sicherer Hafen, der einen beschützt, wenn die Wogen des Lebens mal wieder über ihrem Kopf zusammenschlagen. Obwohl die Erzieher versichern: Du wirst dich hier wohlfühlen. Wir sind sehr tolerant. Wir werden uns gut um dich kümmern. Sie kennt das Lied zur Genüge: Wie oft musste sie das Heim schon wechseln? Hin- und her- und bald wieder abgeschoben. 

Sie ist fünfzehn. Sie hat keinen Namen. Sie kann witzig und geistreich erzählen. Sie traut keinem Erwachsenen über den Weg, kann sich prügeln wie ein Junge und trinken wie ein Mann. Sie trägt Armeehosen, einen ollen Kapuzenpulli und geht niemals zum Frisör. Und wenn sie mal wieder den Ort wechseln muss, hat sie kein Gepäck dabei. 

Die Welt, in der sie immer wieder neu ankommt, ist rau: Entweder muss man sich knallharten Machtstrukturen unterordnen - gemeint sind nicht die Erzieher, die in ihrer eigenen Welt leben und nur ab und zu auftauchen, um Regeln zu verkünden, sondern die Hierarchie der Mitinsassen. Fälle wie sie, schwer erziehbare Jugendliche, die in der Gesellschaft keinen Platz mehr finden. Oder man versucht, so schnell wie möglich auszubrechen, was sie oft genug getan hat. Bis nach wenigen Tagen trügerischer Freiheit eine neue Heim-Erfahrung wartete.

Jetzt sitzt sie im Bett, während ein Mädchen eine enge Zone drumherum mit Kreppband umklebt. Verlässt du diese Grenze, bist du tot, droht die neue Anführerin. Was wird sie tun? Sich einschüchtern lassen? Petzen? Beides findet sie unmöglich.

Die Ich-Erzählerin gewinnt trotzdem Freunde: Heimkinder wie sie, dreizehn- bis sechzehnjährige Tunichtgute, Jugendliche auf dem Weg zum Erwachsenwerden, ohne Sozialkompetenzen und ständig unter Strom. Verzweifelt suchen sie aneinander Halt, vertreiben sich die Langeweile. Ihr Lebensinhalt oszilliert zwischen Klauen, Rauchen, Trinken, Rumhängen, sich mit anderen Prügeln, Einbruch. Nichts ist verboten, Regeln werden aus Prinzip nicht respektiert. Was kann ihnen auch schon passieren?

Zum Kreis der namenlosen Protagonistin gehören: Danny, Michaela und Alex, dann Tommy und Frank, bald auch Andreas und Basti, die zwar keine Heimkinder sind, doch fast genauso am Rande der Gesellschaft stehen. Der „brave“ Andreas, ein Außenseiter in der Schule, hat nur noch seine Oma. Und der rebellische Basti, Eliteschüler, Kind eines millionenschweren Staranwalts – ausgerechnet er verliebt sich in die Hauptheldin. Ein paar weitere kommen und gehen, hin- und hergeschubst vom System, bis sie es nicht mehr aushalten... Die Schwachen bringen sich um, die Starken werden umgebracht, sagt Alex. 

Sie versucht es mit Schule. Erst erzwungenermaßen, später freiwillig. Das Ergebnis ist immer dasselbe. Man will dort keine Störer. Der Tenor: Wir wissen schon, wie du mal endest! Lass uns in Frieden, du hast ja doch keine Chance... 

Ein roter Faden der Sinn- und Hoffnungslosigkeit zieht sich durch ihr Leben. Wie batteriebetrieben treiben die Heimkinder von einem Ereignis zum anderen, sind Spielbälle und Spieler zugleich, Tretende und Getretene, die weder Ursache noch Wirkung begreifen.

Bis zum Schluss ein Hoffnungsschimmer aufflackert! Kann man diesem unseligen Kreislauf entkommen? Einigen gelingt es überraschend - trotz, nicht wegen des Systems. Manchmal gibt es eben Glück. Wird auch sie es schaffen - oder bald wieder ganz am Anfang stehen? Neuer Vormund, neues Heim, allein. Und das Rad dreht sich einfach weiter.
Mirijam Günter, die heute mit straffällig gewordenen Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen Literaturwerkstätten abhält, hat mit ihrem Debütroman „Heim“ 2009 den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis gewonnen und damit ein gewaltiges Presseecho ausgelöst. Ein lesenswertes, aber erschütterndes Buch über die Schwächen unserer Gesellschaft, die solche Kinderschicksale hervorbringt und hilflos weiter zulässt.


Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Die Bücher sind in den deutschsprachigen Bibliotheken des Goethe-Instituts auszuleihen.