Wer diese Tage durch die Harteneckgasse/Str. Cetăţii geht, erkennt schon aus der Ferne, dass neben den Jahrhunderte alten Mauern der Wehranlage Leben eingekehrt ist, das an die Zeiten dieser Gemäuer erinnert. Junge Wandergesellen, die sich zur Zeit in Hermannstadt/Sibiu aufhalten, haben hier ihre Werkstätten aufgebaut und arbeiten auf der Straße mit Holz oder Eisen unter den bewundernden Augen der Passanten. Unter einer Plane, die sie über ihre Werkstätte gespannt haben, lassen Schmiede Rosen, Scharniere und Türangeln entstehen. Ein anderer Geselle arbeitet an einem Treppenaufgang und einige Meter weiter wartet ein massiver Steinblock darauf, bearbeitet zu werden.
Die jungen Frauen und Männer stammen größtenteils aus dem deutschsprachigen Raum, wo sie ein Handwerk erlernt haben. Nun reisen sie durch die weite Welt, um ihre Lehre zu vollenden. Wandergesellen gibt es aber auch in anderen europäischen Ländern. Der Begriff „Naver“ bezeichnet die schwedischen Gesellen, die vor Jahrhunderten nach Süden reisten und um Arbeit ersuchten. In Frankreich gibt es die „Compagnonnage“ mit heute mehreren Organisationen, die zumeist die Form von Gewerkschaften und Fortbildungseinrichtungen haben. Nichtsdestotrotz ermutigen sie ihre Gesellen zur „Tour de France“, mit welcher allerdings nicht das berühmte Fahrradrennen, sondern eine Rundreise durch Frankreich gemeint ist. Je nach Wunsch können sie anschließend auch die Welt bereisen. Die Wanderschaft, auch Tippelei oder Walz genannt, dauert je nach Wahl des Gesellen und den Bestimmungen der Bruderschaft, welcher er angehört, mindestens drei Jahre und einen Tag.
Auf die Walz
Damit ein Geselle auf die Walz gehen kann, muss er einige Bedingungen erfüllen. Er muss die Gesellenprüfung in einem der rund 30 Handwerke bestanden haben, ledig und kinderlos sein, keine Schulden haben und – im Fall der meisten Vereinigungen – ein reines Führungszeugnis vorweisen können. Die meisten Schächte haben eine Altersbegrenzung und manchmal ist auch die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft erforderlich. Wer diese Voraussetzungen erfüllt, verabschiedet sich von seinem Heimatort laut Tradition dadurch, dass er über das Ortsschild sozusagen aus dem Ort hinaus in die Welt klettert und während der Dauer der Wanderschaft eine Bannmeile von meistens 50 Kilometern nicht betreten darf. Desgleichen kann sich der Reisende zu Beginn oder während seiner Walz ein Loch für einen Ohrring stechen lassen. Dieses wird mit Nagel und Hammer gemacht. Der Geselle legt ein Ohrläppchen auf einen Tisch und nach zwei 5 drei Hammerschlägen ist das Loch drin. Was diesbezüglich nicht jeder weiß, ist, dass man Gesellen, die Schande über ihren Schacht bringen, indem sie zum Beispiel von einem Gastgeber stehlen, den Ohrring herunterreißt. Der dadurch verursachte Riss im Ohrläppchen hat zur Entstehung des Begriffes „Schlitzohr“ geführt und ist ein Zeichen für die Unehrlichkeit des Betreffenden.
Zu erkennen sind die Wandergesellen von weitem an ihrer „Kluft“. Das ist die traditionelle Tracht, die während der gesamten Wanderschaft getragen werden muss und welche sich von Gesellenvereinigung zu Gesellenvereinigung unterscheidet. Die Kluft besteht hauptsächlich aus einem weißen Hemd mit Stehkragen, auch Staude genannt, Weste und Jackett mit Perlmuttknöpfen in den Farben des jeweiligen Gewerks, einer Schlackhose, Zylinder, Schlapphut oder Melone, schwarze Schuhe und der Ehrbarkeit – ein krawattenähnliches Band, das an der Staude befestigt wird. In der Öffentlichkeit muss die Kluft immer getragen werden. Die Ehrbarkeit ist das äußere Zeichen der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gesellenverband und gleichzeitig das Kostbarste an der Kluft. Bringt der Geselle Schande über sich und die Bruderschaft, so wird ihm auch die Ehrbarkeit abgenommen. Auf diese Weise will man sicherstellen, dass die Gesellen überall einen guten Ruf hinterlassen, so dass die nächsten ebenfalls gern gesehen sind. Ein gepflegtes Äußeres und ein gutes Verhalten helfen, das positive Bild des Schachtes aufrecht zu erhalten und erleichtert dem Reisenden seine Wanderschaft.
Die Tippelei ist meist an schwere Bedingungen gebunden. Deutsche Gesellen dürfen kein eigenes Fahrzeug besitzen und dürfen kein Geld für Transport oder Unterkunft ausgeben, sondern müssen sich zu Fuß oder per Anhalter fortbewegen und für die Unterkunft arbeiten oder bezahlen. Öffentliche Verkehrsmittel sind zwar nicht verboten, aber auch nicht gerne gesehen. Unvermeidlich werden jedoch Flüge, zum Beispiel, wenn der Geselle große Entfernungen zurücklegt. Auch moderne Kommunikationsmittel wie Mobiltelefone und Laptops oder Tablets sind verboten. Wenn sich wichtige Angelegenheiten ergeben, bedienen sich Reisende der Post oder gehen in Internetcafés. Eine Ausnahme machen französische Gesellen, denen es erlaubt ist, Autos und Mobiltelefone zu besitzen.
Hab und Gut im Charlie
All sein Hab und Gut verstaut der Wandernde in einem „Charlottenburger“ oder „Charlie“, ein Tuch mit einer Fläche von ungefähr einem Quadratmeter, worauf für gewöhnlich der Name und das Wahrzeichen des betreffenden Schachtes gedruckt sind. Der Name geht auf die Stadt Charlottenburg zurück, wo die Gesellen früher mit anderem Gepäck nicht eingelassen wurden, weil sich Läuse und anderes Ungeziefer darin hätten verstecken können.
Die Tippelbrüder führen auch ein Wanderbuch mit sich, in dem sie die Siegel der Städte sammeln, die sie bereist haben und um welche sie bei den Bürgermeistern „zünftig vorsprechen“ müssen. Früher dienten die Siegel als Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung. Obwohl sie heutzutage keine Notwendigkeit mehr darstellen, wurde die Tradition beibehalten, um auch einen Überblick über die Länder zu haben, die man bereist hat.
Nach Beendigung der Reisezeit können sich die Gesellen „einheimisch“ melden, d. h. wieder im Heimatland, sofern sie schuldenfrei sind. Die Einheimischmeldung wird oftmals groß gefeiert, wobei viele frühere Reisekameraden weite Anreisen in Kauf nehmen, um daran teilzunehmen. Einige später bekannt gewordene Wandergesellen sind August Bebel (Mitbegründer der SPD), Friedrich Ebert (der erste Präsident der Weimarer Republik), Albrecht Dürer der Jüngere, Adam Opel (Gründer der Firma „Adam Opel“, die in zweiter Generation die Automobilproduktion begann) oder Walter Ulbricht (der Vorsitzende des DDR-Staatsrates).
Nach Hermannstadt reisen Wandergesellen seit 2002 wieder. In der Herberge oberhalb der Sagstiege/Pasajul Scărilor haben sie seitdem eine feste Unterkunft, welche ihnen seitens der Evangelischen Kirchengemeinde A. B. durch Stadtpfarrer Killian Dörr zur Verfügung gestellt wurde. Am 23. Juli 2007 wurde der „Verein zum Er- und Unterhalt der Casa Calfelor Sibiu – Gesellenherberge Hermannstadt – Maison des Compagnons Sibiu“ gegründet, mit dem Zweck, den Kontakt und den Austausch zwischen den einheimischen und den reisenden Handwerkern zu erhalten und die Gesellenherberge zu unterhalten und auszubauen. Da es die erste Herberge ist, die sich weder auf deutschem, Schweizer oder französischem Boden befindet, haben sich hier der Austausch und die Zusammenarbeit der meisten verschiedenen Gesellenvereinigungen, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, entwickelt.
Gemeinsame Projekte
Mehr oder weniger regelmäßig begeben sich Wandergesellen nach Hermannstadt und veranstalten gemeinsame Projekte mit lokalen Handwerkern oder anderen Gesellen, die hierher reisen. Ein solches Projekt findet heuer zum achten Mal in Folge mit der Beteiligung von rund 30 Tippelbrüdern statt, genauer vom 21. Juli zum 31. August. In Schauwerkstätten zeigen sie dem Publikum ihr Handwerk und tauschen sich untereinander aus.
Wesley stammt aus Paris wo er auch seine Lehre als Steinmetz absolviert hat. Er ist seit mehr als zweieinhalb Jahren unterwegs und bereits zum siebten Mal in Hermannstadt. Auf seiner Reise durch Rumänien war er auch in Schäßburg/Sighişoara und Temeswar/Timişoara unterwegs. Gereist ist er kreuz und quer durch Europa und war u.a. in Deutschland, Polen, England, Holland oder in der Schweiz. Nun überlegt er, auch andere Kontinente zu erkunden.
Antonia ist eine Tischlerin, die in Hamburg ihre Ausbildung gemacht hat und zurzeit im Freien Begegnungsschacht reist. Den üblichen Vorurteilen entgegen sieht sie das Leben einer Wandergesellin nicht komplizierter als das eines Mannes. Einer der Vorteile als Wandergesellin ist, Betriebe kennenzulernen und sich anders in deren Arbeit einzubringen als dort, wo sie gelernt hat. Unter anderem hat sie an sozialen Projekten in Frankreich, Deutschland und der Schweiz für Kost und Logis mitgearbeitet. Unterwegs ist Antonia seit dreieinhalb Jahren und war in Ländern wie den Niederlanden, Belgien, Frankreich, der Schweiz, Österreich, Ungarn oder Spanien. Sie beabsichtigt, Europa und vor allem seinen Norden besser kennenzulernen.