Der Aufmarsch russischer Streitkräfte nahe der ukrainischen Grenze hat Ängsten vor einem neuen Krieg geschürt. Aber der Konflikt selbst ist nicht neu, und ebensowenig sind es die Ziele Russlands. Die Ukraine, seit Jahrhunderten von Regierungen mit Sitz in Moskau indirekt kontrolliert oder offen unterdrückt, will von der Nato vor künftigen russischen Einfällen beschützt werden – wie dem, den der Kreml 2014 begonnen hat. Russlands Präsident Wladimir Putin fordert dagegen ein Versprechen der Nato, nicht weiter in osteuropäische Ländern zu expandieren, die an Russland grenzen (das bereits Grenzen mit fünf Nato-Mitgliedsstaaten teilt).
Die Nato, angeführt von den Vereinigten Staaten, weist Putins Forderung mit dem Argument zurück, dass alle Länder das Recht hätten, über ihr Schicksal zu entscheiden. Aber die Unabhängigkeit der Ukraine zu schützen ist nicht so einfach, wie es scheint: Denn es herrscht ein Ungleichgewicht zwischen dem Preis, den Russland gewillt ist, für die Kontrolle über die Ukraine zu bezahlen, und dem Preis, die Nato-Länder gewillt sind zu zahlen, um das Land von russischer Oberhoheit zu schützen.
Putins schwindende Puffer
Russland hat wenige Verbündete, während die Nato dreißig der reichsten Länder der Welt umfasst, von denen viele über modernisierte Streitkräfte verfügen. Dennoch hat es Russland über die vergangenen 200 Jahre geschafft – fast immer durch Gewalt und Aggression – kleine Nachbarländer als Puffer gegen potentiell bedrohliche westeuropäische Länder zu benutzen.
Putin sieht die heutige geopolitische Landschaft ganz ähnlich. Er fürchtet, dass seit dem Kollaps der Sowjetunion Russlands westlicher Puffer auf Belarus zusammengeschrumpft ist. Die Ukraine in der Einflusssphäre des Kremls zu behalten ist daher entscheidend für seine Strategie, Russlands nationale Sicherheit zu gewährleisten und seine geopolitische Bedeutung zu stärken.
Lektionen aus der Geschichte
Die meisten Nato-Mitgliedsstaaten, einschließlich der USA, haben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine so starke Motivation wie Putin. Darüber hinaus hat die Geschichte gezeigt, wie schwierig es ist, die Unabhängigkeit von Staaten mit großen, angriffslustigen Nachbarstaaten zu sichern: Während des Kalten Krieges hat die USA einen kostspieligen Krieg geführt, um die Unabhängigkeit von Südkorea zu sichern. Dann hat es einen noch teureren Krieg geführt, um Südvietnam unabhängig zu halten, und ist gescheitert. Alles in allem dauerten diese beiden Kriege in Asien 20 Jahre lang und kosteten etwa 1,2 Billionen Dollar und über 90.000 US-Soldaten das Leben.
Die USA hat manche Lektion aus diesen Kriegen erst kürzlich wieder lernen müssen: Letztes Jahr ist sie aus Afghanistan abgezogen, nachdem sie 20 Jahren lang daran gescheitert ist, politische Ordnung oder eine funktionierende Wirtschaft zu etablieren. Noch bevor westliche Kräfte das Land verlassen haben, wurde es bereits von den Taliban übernommen. Und auch wenn Afghanistan sich sehr von der Ukraine unterscheidet, bleibt die Tatsache, dass die amerikanische Öffentlichkeit wenig Appetit auf einen weiteren militärischen Auslandseinsatz hat.
Vorteile des Autoritarismus
Diese Tatsachen sind Putin wohlbekannt – einem autoritären Herrscher, der von der öffentlichen Meinung in seinem Land nicht gleich abhängig ist wie seine westlichen Gegenspieler. Während es für die USA und ihre Verbündeten schwierig sein wird, ihre Wählerschaft zu überzeugen, dass die Verteidigung der Ukraine sich lohne, profitiert Putin davon, dass der russische Nationalismus in den letzten Jahren stetig gestiegen ist. Die Zustimmungswerte Putins sind nach der Annexion der Krim 2014 stark in die Höhe gegangen. Es stimmt, dass diese Werte seitdem signifikant gesunken sind, und dass die russische Öffentlichkeit einem Krieg in der Ukraine gegenüber misstrauisch scheint. Aber Putin weiß aus Episoden der Geschichte, wie der großen sowjetischen Hungersnot, dass der russischen Bevölkerung viel abverlangt werden kann, um wichtige politische Ziele zu erreichen.
Darüber hinaus hat das Verhalten der Nato selbst vielleicht Putins Entschlossenheit gestärkt, eine Strategie der Aggression zu verfolgen. Als das russische Bruttoinlandsprodukt und die Militärausgaben nach der Auflösung der Sowjetunion ein historisches Tief erreichten, hat sich die Nato nicht aufgelöst – obwohl sie ausdrücklich mit dem Ziel gegründet worden war, im Kalten Krieg die Sowjetunion in Zaum zu halten. Stattdessen hat sie sich auf frühere sowjetische Satellitenstaaten in Zentral- und Osteuropa ausgeweitet – und sogar drei frühere Sowjetrepubliken.
Bis 2008 hatten sich das russische BIP und die Militärausgaben erholt, und Frankreich und Deutschland meldeten Vorbehalte dagegen, Russland durch die Einladung an die Ukraine und Georgien zur Nato zu provozieren. Dies führte zu Konflikten mit der Regierung von US-Präsident George W. Bush, und es kam zur Übereinkunft, dass die Nato der Ukraine ein vages Versprechen bezüglich zukünftiger Mitgliedsschaft geben würde (der Bukarest-Kompromiss). Wenige Monate später hat Russland Georgien überfallen, und der Westen zeigte wenig Widerstand. Darüber hinaus fiel dieser strategische Sieg für Putin mit einem Wirtschaftsboom zusammen, was beides dazu beitrug, seine politische Macht zu festigen.
Aus Putins Perspektive wird die Nato wahrscheinlich die Ukraine früher oder später absorbieren, wenn sie davon ausgeht, dass Russland nicht länger kämpft, um dies zu verhindern. Aber wenn Russland glaubhaft macht, dass es für die Kontrolle über die Ukraine kämpfen wird, dann passiert wahrscheinlich eines von zwei Dingen: Der Westen wird Frieden aushandeln; oder es wird einen Krieg geben, den die Nato wenig Lust hat, zu führen. In beiden Fällen maximiert die Kriegsdrohung Putins Chancen, die Ukraine in russischer Einflusssphäre zu halten.
Für das Wohl der Menschen in der Ukraine
Die USA, historisch gesehen die deutlichste Befürworterin einer Nato-Expansion, müssen die Situation nüchtern bewerten. Russland wird kämpfen, und so lange die USA nicht glaubhaft zeigen können, dass sie ebenfalls kämpfen werden, kann die Ukraine dem russischen Einfluss nicht entkommen und wirklich unabhängig werden. Im schlimmsten Szenarium landen die USA und der Westen unentschlossen und halbherzig in einem Krieg, den sie schluss-endlich aufgeben werden, während die Ukrainer und Ukrainerinnen den Großteil der menschlichen und wirtschaftlichen Kosten tragen.
Während manche im Westen signalisieren, dass sie die heutigen harschen Realitäten akzeptieren, argumentieren andere, dass jede Bereitschaft, eine Übereinkunft mit Putin zu erreichen, gleichbedeutend sei mit dem Appeasement des britischen Premierminister Neville Chamberlain gegenüber Nazi-Deutschland in München. Das ist nicht korrekt. Einen Krieg zu verhindern ist das beste, was die USA und ihre Verbündeten für das Wohl der Ukraine tun können, wenn es auch nicht das Ideal der vollen Unabhängigkeit ist.