Es ist ein altbekanntes und bis heute ungelöstes Problem: In die deutschsprachigen Schulen im urbanen Raum Südtirols werden so viele Schüler eingeschrieben, die der Unterrichtssprache nicht oder nur unzureichend mächtig sind, dass deutschsprachige Eltern eine Beeinträchtigung der Bildungschancen ihrer Kinder befürchten. Mit einer besonderen Maßnahme wollte die Direktorin einer Bozner Grundschule heuer das Problem lösen. Das hatte scharfe politische Auseinandersetzungen bis in die Landesregierung hi-nein zur Folge.
Die Ausgangslage ist folgende: Bereits im Pariser Vertrag von 1946 zwischen Österreich und Italien wurde festgelegt, dass die deutschsprachigen Südtiroler das Recht auf Unterricht in ihrer Muttersprache haben. Im Zweiten Autonomiestatut von 1972 heißt es dazu in Artikel 19: „In der Provinz Bozen wird der Unterricht in den Kindergärten, Grund- und Sekundarschulen in der Muttersprache der Schüler, das heißt in italienischer oder deutscher Sprache, von Lehrkräften erteilt, für welche die betreffende Sprache ebenfalls Muttersprache ist.“ Das Statut steht im Verfassungsrang. Allerdings hat das Land Südtirol im Bildungswesen nur sekundäre Zuständigkeit, kann also zwar Details regeln, muss sich aber an die Grundsätze halten, die der Staat vorgibt. Zu diesen gehören Integration und Inklusion.
Im Südtiroler Schulsystem gibt es eine deutsche, eine italienische und eine ladinische Schule. In der deutschen und der italienischen Schule wird die jeweils andere Sprache als Zweitsprache unterrichtet, in der ladinischen Schule findet der Unterricht in allen drei Sprachen statt. Eltern sind aber frei, ihre Kinder in jene Schule zu schicken, die sie für am besten geeignet halten.
Nun schicken viele italienischsprachige Eltern in den Städten ihre Kinder in die deutsche Schule, weil sie sich davon bessere Chancen für ihre Sprösslinge erhoffen. Dasselbe tun aber auch Zuwanderer aus anderen Staaten Europas und ebenso aus Nordafrika oder aus Asien stammende Eltern (der hoch entwickelte Tourismus in Südtirol ist auf Arbeitskräfte auch aus dem ferneren Ausland angewiesen). Umgangssprache in den städtischen Schulhöfen ist daher schon seit vielen Jahren Italienisch, das auch die Zuwandererkinder eher – zumindest rudimentär – beherrschen als Deutsch, weil sie in der Regel schon einige Stationen in anderen Gegenden Italiens hinter sich haben, bevor sie in Südtirol landen.
Deutschsprachige Familien reagierten auf die starke Zunahme an nicht Deutsch sprechenden Kindern damit, dass sie ihre Kinder in Schulen in benachbarten Dörfer brachten, wo noch ein größerer Anteil deutscher Kinder vorzufinden ist, was aber die deutsche Schule in Bozen weiter schwächt.
Theoretisch gäbe es zwar die Möglichkeit, die Einschreibung eines Kindes in eine Schule zu verweigern, wenn unzureichende Sprachkenntnisse vorliegen, praktisch ist diese Bestimmung aber aufgrund politischer Blockaden seit jeher nicht umsetzbar. Einfach abweisen und in die italienische Schule schicken kann man Kinder nicht, die nicht genug Deutsch sprechen. Dass die deutsche Schule als Minderheitenschule unter einem ganz anderen Druck steht als die italienische, auch wenn in dieser der Anteil an Zuwanderern deutlich höher ist, steht außer Diskussion.
Um nun den nicht oder nur unzureichend Deutsch sprechenden Kindern, die heuer eingeschult wurden, die Chance zu geben, schneller die Unterrichtssprache zu erlernen, und zugleich den deutschsprachigen Kindern tatsächlich auch muttersprachlichen Unterricht garantieren zu können, wollte die Direktorin der Bozner Grundschule „Johann Wolfgang von Goethe“ vor Schulbeginn die des Deutschen nicht mächtigen Kinder in einer Klasse zusammenfassen, in der dafür gesorgt werden sollte, dass sie zügig Deutsch lernen, bis sie dem Unterricht in deutscher Sprache folgen können. 40 Prozent der gesamten Schüler in dieser Schule hätten Probleme, der deutschen Unterrichtssprache zu folgen, ließ die Direktion verlauten.
Das Vorhaben sorgte für einen Aufschrei. „Ghetto und Rassismus“ sagte Landesrat Marco Galateo dazu, der der rechtsextremen Partei „Fratelli d’Italia“ von Regierungschefin Giorgia Meloni angehört und für die italienische Schule in Südtirol zuständig ist. „Sollten Migranten in einer Klasse zusammengelegt worden sein, ist das mehr als diskutabel. Sind auch italienische Kinder darunter, ist es zu verdammen“, äußerte sich Landesrat Christian Bianchi, der als parteiloser Lokalpolitiker auf der Liste der populistischen Lega von Innenminister Matteo Salvini in den Landtag gewählt wurde.
Die Landesregierung stellte fest, dass Sonderklassen nicht zulässig seien. „Es gibt keine Alternative zu Inklusion und Integration, sonst droht sozialer Unfrieden“, sagte der für die deutsche Schule zuständige Landesrat Philipp Achammer (SVP). Das Schulamt bekam den Auftrag zu prüfen, ob das Gebot der Ausgewogenheit bei der Zusammensetzung der Schulklasse eingehalten worden sei. Das sei nicht der Fall, teilte das Amt mit; die Schuldirektorin erhielt die Anweisung, die Klassen neu einzuteilen.
Diesen Schritt begründete das Schulamt damit, dass laut Wissenschaft Segregation in Sonderklassen keine Vorteile bringe. Zudem hätten Untersuchungen ergeben, dass deutschsprachige Kinder an den Bozner Schulen im Vergleich mit Kindern aus anderen deutschen Schulen keineswegs schwächere Leistungen brächten. Die Schulbehörde verwies darauf, dass Schulen mit solchen Problemen bereits unterstützt werden, indem sie zusätzliche, speziell geschulte Lehrkräfte zugewiesen bekommen. Der Grundschulsprengel Bozen, zu dem die Goetheschule gehört, habe sieben solcher Lehrkräfte bekommen, landesweit gebe es 150 solcher Stellen.
Die Schulbehörde setzt auf andere Lösungsversuche. So wird in diesem Schuljahr an einer Meraner Schule in den drei ersten Klassen im Deutschunterricht (und nur in diesem) der Klassenverband aufgelöst und die Kinder entsprechend ihrem Wissensstand in fünf unterschiedlichen Fördergruppen im Deutschen unterrichtet. So kann man mit Schülern, die kein Deutsch können, beim Erwerb der Sprache sowie der Lese- und Schreibkompetenzen anfangen. Schüler, die damit kein Problem haben, bekommen einen Deutschunterricht, der ihrem Niveau entspricht und sie nicht unterfordert. In den übrigen Fächern werden die Kinder wieder im normalen Klassenverband unterrichtet.
Landeshauptmann Arno Kompatscher (SVP) wies seine italienischen Koalitionspartner darauf hin, dass sie selbst zur Lösung des Problems beitragen könnten, indem sie die italienische Schule attraktiver machen; dann würden weniger italienische Kinder in deutsche Schulen eingeschrieben. Die alte und immer wieder vorgebrachte Forderung von italienischer Seite nach zwei- oder mehrsprachigen Schulen könne nun erfüllt werden: Die seit Jahresbeginn im Amt befindliche neue Landesregierung habe die Möglichkeit dazu geschaffen. Am Prinzip des muttersprachlichen Unterrichts in der deutschen Schule (und insgesamt an Artikel 19 des Autonomiestatuts) dürfe aber nicht gerüttelt werden, stellte Kompatscher klar.