Ohne Zweifel ist es prakisch, wenn man Parkgebühren per Handy App bezahlen kann, wenn „Gabrielas“ Stimme zielsicher durch die unübersichtliche Großstadt schleust und Youtube zeigt, wie man eine Ananas fachgerecht filetiert, während man in der Warteschlange steht. Freilich will heutzutage niemand mehr auf den Taschenrechner verzichten, auf das professionelle Grafikprogramm, auf Laptop oder Tablet, mit denen man auch von unterwegs arbeiten kann. Die digitale Welt hat ihre Vorteile - ein Zurück ist weder denkbar noch erwünscht. Umso wichtiger ist es jedoch, auch die Schattenseiten der zunehmenden Digitalisierung zu kennen. Vor allem Kinder sind davon betroffen, warnt der Neurologe und Psychiater Prof. Dr. Manfred Spitzer, Leiter des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen an der Universität Ulm, einer der führenden Experten zum Thema.
Nicht nur, dass digitale „Lernhilfen“ genau den gegenteiligen Effekt haben können, wie zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen, warnt Spitzer. Ein übermäßiger Gebrauch von Smartphone und Internet leistet Demenz und Krankheiten Vorschub, weswegen Länder wie China oder Südkorea – immerhin große Handy-Produzenten – bereits Gesetze zum Schutz von Kindern erlassen haben. Längst hat man auch in Deutschland eine Korrelation zwischen Hassreden auf Facebook und Hassverbrechen gegen Migranten erkannt, sowie eine generelle Zunahme der Grausamkeit bei Gewalttaten, zurückzuführen auf exzessive Zeit vor dem Bildschirm. Doch der Experte zitiert nicht nur Studien, sondern erklärt auch anschaulich die Zusammenhänge. Sein Vortrag „Digitale Demenz“ am 23. Februar lockte Hunderte Interessierte ins Bukarester Athenäum. Seit Kurzem ist sein gleichnamiger Besteller auch auf Rumänisch erhältlich.
Das Gehirn macht keine Downloads
Das Gehirn hat keinen zentralen Prozessor. Und keinen Speicher, den man herunterladen oder auslagern könnte. Wenn wir uns an etwas erinnern, machen wir kein Download. Lernen funktioniert tatsächlich völlig anders als im Computer. Zur Illustration des Unterschieds beginnt Spitzer mit einem weltberühmten Fall: dem Mann „ohne“ Gehirn. Er sei unauffällig, verheiratet, berufstätig, nichts deutete darauf hin, was nur durch Zufall entdeckt wurde - dass sich seine Hirnmasse auf eine dünne Schicht unter der Schädelkapsel beschränkt. Der Rest – ein riesiges Loch! Gehirnkrankheiten, bei denen Neuronen absterben, machen sich erst ab einem Verlust von 70 Prozent Hirnmasse durch Symptome bemerkbar, erklärt dazu Manfred Spitzer. So lange kann der vorhandene Rest den Ausfall kompensieren. Der Grund? Der Speicher liegt nicht an einem Ort, auch nicht in der Masse, sondern ist überall verteilt.
Wie das funktioniert? „Die Antwort auf diese Frage ist der größte Fortschritt der letzten 50 Jahre!“ bekennt der Experte.
Zum Verständnis erläutert er das Grundprinzip der elektrischen Signalübertragung: Diese erfolgt zwischen den Neuronenfortsätzen, doch nicht kontinuierlich entlang des „Kabels“, was zweifellos schneller wäre. Statt dessen sind diese durch Spalte, Synapsen genannt, unterbrochen, die das Signal mittels chemischer Reizleitung überspringen muss. Etwa 100 Milliarden Nervenzellen enthält ein Gehirn und jedes Neuron verfügt über ca. 10.000 Synapsen, die sich zudem ständig verändern. Denn wiederholte Gedanken, vor allem wenn sie mit Emotionen beladen sind, verstärken die synaptischen Verbindungen der dazugehörigen Bahnen, während die ungenutzten verkümmern. „Das ist messbar und fotografierbar“, betont Spitzer. Und es verleiht dem Gehirn eine außerordentliche Plastizität! Wir müssen uns vorstellen, dass sich das Gehirn mit jedem Gedanken umformt. „Wenn man liest und nicht nur die Buchstaben anschaut, sondern auch versteht und aufmerksam Anteil nimmt, arbeitet das ganze Gehirn. Es schafft neue Verbindungen oder verstärkt vorhandene. Das ist Lernen!“
Lernen wirkt Demenz entgegen
Noch einen wesentlichen Unterschied gibt es zwischen Gehirn und Computer: Im Rechner ist der Speicher irgendwann voll, dann müssen Daten ausgelagert werden, damit er wieder besser funktioniert. Beim Gehirn ist genau das Gegenteil der Fall: Je mehr ein Mensch lernt, desto leichter fällt es ihm, weitere Dinge zu erlernen. „Es gibt Menschen, die 50 Sprachen können und das Gehirn stößt an keine Speichergrenzen, im Gegenteil! Es schafft einfach mehr Neuronenverbindungen. Für neue Sprachen sind dann nur noch kleine Veränderungen erforderlich“, erläutert der Neurologe.
Doch müssen wir uns heutzutage überhaupt noch mit Fremdsprachenlernen plagen? „Google arbeitet an einem kleinen Kästchen, das bald in der Lage sein wird, beliebige Sprachen für uns zu übersetzen“, verrät dazu Manfred Spitzer. „Damit könnte man das Sprachenlernen outsourcen.“ Doch wird es damit überflüssig? Nicht unbedingt! Denn das Gehirn funktioniert wie ein Muskel, erklärt Spitzer: Je mehr man auslagert, je weniger man ihn trainiert, desto stärker verkümmert er. „Junge Leute sollten überhaupt nie etwas out-sourcen!“ Denn je weniger sie lernen, desto weniger Neuronenverbindungen werden geschaffen und umso schneller macht sich später Demenz bemerkbar, verursacht durch Alzheimer oder andere degenerative Prozesse.
Demenz ist keine Krankheit, sondern der Begriff für geistigen Abstieg. Je höher das Ausgangsniveau, desto länger dauert dieser. Deswegen ist es wichtig, frühzeitig so viel wie möglich zu lernen – und lebenslänglich zu lernen. Dies illustriert eindrucksvoll die sogenannte „Nonnenstudie“ über Alzheimer, bei der die kognitive Leistung von 678 Klosterschwestern langfristig untersucht wurde. Eine der Teilnehmerinnen, Schwester Mary, fiel durch besonders gute Testergebnisse auf, bis ins hohe Alter. Bis 84 war sie als Lehrerin tätig, aber auch danach blieb sie bis zu ihrem Tod mit 101 Jahren hochgradig engagiert. Umso größer war die Überraschung, als sich bei der Autopsie herausstellte, dass ausgerechnet Schwester Mary an Alzheimer litt! Ihr Gehirn war voll von den krankheitstypischen Protein-Ablagerungen, die massive Neuronenverluste verursachen. Doch der geistige Abstieg war bis zuletzt symptomatisch nicht erkennbar - weil Schwester Mary über eine extrem hohe Ausgangsposition verfügte. „Wenn das Gehirn hoch trainiert ist, können viele Neuronen sterben und keiner merkt etwas“, resümiert Spitzer. Wichtig sei jedoch, frühzeitig Freude am Lernen zu finden. Denn was man in der Jugend nicht lernt, fällt später umso schwerer. Was vor allem Eltern verinnerlichen sollten: „Wenn Kinder viel am Handy spielen, kommt die Demenz früher!“
Von „Gehirnjogging“ durch Sudokus, Kreuzworträtsel oder speziell für Senioren entwickelte Computerspiele hält der Experte übrigens nichts. Um den „Muskel Gehirn“ zu trainieren, genügt es nicht, bestimmte Fertigkeiten zu reproduzieren. Es muss eine hohe Verarbeitungstiefe des Gelernten erreicht werden.
Sind digitale Lernhilfen schädlich?
Lange hieß es, alle Schulen müssten mit Computern und Internet ausgestattet werden. Der Staat fördert entsprechende Programme: Deutschland gab fünf Milliarden Euro dafür aus, um Computer in die Klassenzimmer zu bringen. Viele Eltern wählen Bildungsanstalten nach diesen Kriterien aus. Dabei sollten sie lieber Schulen ohne Laptops wählen, rät Spitzer. Denn mittlerweile gibt es Dutzende Studien, die zeigen: Ohne Laptop, Handy und Internet lernen die Kinder besser!
Vor allem in Bezug auf arme Länder und lernschwache Schüler hieß es bisher, Computer und Internet müssten angeschafft werden, damit diese ihren Bildungsrückstand aufholen können. Tatsächlich ist genau das Gegenteil der Fall, wie die Ergebnisse an Schulen mit Smartphone-Verbot deutlich zeigen: Bei den führenden 20 Prozent der Schüler gab es nur geringe Veränderungen, doch darunter waren deutliche Verbesserungen der Noten erkennbar. Am meisten profitierten ausgerechnet die lernschwächsten 20 Prozent!
Wie lässt sich dies erklären? Zum einen nutzen bildungsschwache Kinder das Handy nicht für Wissenserwerb, sondern für gewaltfördernde Filme, Chats, Spiele oder den Zugang zu pornografischen Inhalten. Zum anderen beeinträchtigt allein die Anwesenheit eines Smartphones den Lernerfolg. „Wenn das Telefon beim Lernen im selben Raum liegt, geht die Merkfähigkeit signifikant runter“, zitiert Spitzer eine Studie aus 2017. Sogar IQ-Tests fallen dann um fünf Prozent schlechter aus. „Gehirne sind leicht abzulenken“, erklärt er. „Man denkt unbewusst ständig daran, dass eine Nachricht eingetroffen sein könnte oder man etwas auf Facebook checken muss.“
Je jünger das Kind, desto schädlicher sind Bildschirme für die Entwicklung. Spitzer projiziert das Bild eines Töpfchens mit Touchscreen an die Wand. Irgendjemand hielt es wohl für eine geniale Idee, die nutzlose Zeit beim Toilettentraining mit Lernen zu verbinden, hebt er an. „Doch einjährige Kleinkinder lernen noch nichts am Bildschirm! Sie verarbeiten die dort gebotene Information nicht, das gilt längst als erwiesen“, vermittelt der Neurologe. Statt über ein Touchboard zu wischen wäre es ihrer Gehirnentwicklung förderlicher, konkrete Gegenstände zu erfassen. Einen Bleistift, ein Ei, eine Nadel, einen Henkel oder einen Schlüssel hält man ganz unterschiedlich, jede dieser Übungen stimuliert das Gehirn auf andere Weise, erklärt Spitzer. Wird diese wichtige Phase durch zu viel Zeit am Bildschirm verkürzt, leidet die Entwicklung.
Wenn das Internet krank macht
Der übermäßige Gebrauch von Handy, Internet & Co. zieht manchmal sogar messbare Gesundheitsschäden nach sich. Längst ist bekannt, dass es einen Zusammenhang zwischen langen Internetzeiten und dem Auftreten von Bluthochdruck bei immer jüngeren Leuten gibt. Dass übermäßige Online-Stunden Stress auslösen und das Immunsystem schwächen, was mehr Infektionen und sogar Krebs auslösen kann. Oder, dass der Gebrauch des Smartphones mehr junge Leute im Straßenverkehr tötet als Alkohol.
Studien zeigen, dass mit zunehmendem Smartphone-Gebrauch Angst und Unzufriedenheit steigen. Und Hirnscans demonstrieren, dass bei Spiele- oder Facebook-Sucht die gleichen Areale betroffen sind wie bei der Sucht nach Drogen! Süchte verändern das Gehirn. Umso schockierender, dass über 90 Prozent der Facebook-Nutzer süchtig seien, wie Spitzer behauptet.
Ein weiteres Beispiel ist Cyberchondrie, auch „Morbus Google“ genannt: Kranke googeln im Internet ihre Symptome und stellen Eigendiagnosen, die meist negativer ausfallen aus das tatsächliche Gebrechen, denn zahlreiche Symptome treten sowohl bei harmlosen als auch bei lebensbedrohlichen Krankheiten auf. Dies kann Angst und Stress auslösen und sich damit tatsächlich auf die Gesundheit auswirken – mit messbaren Konsequenzen. „Das Phänomen kostet Deutschland viel Geld“, erklärt Spitzer und fügt an: „Eine Milliarde pro Tag gibt das deutsche Gesundheitswesen aus – davon ein bis zwei Prozent für Morbus Google!“
Kaum zu glauben, dass das Internet in den letzten Jahren sogar zu einer drastischen Zunahme der Geschlechtskrankheiten geführt hat. Erklärbar ist dies mit sogenannten „hookup apps“. Online-Plattformen zur Kontaktanbahnung vermitteln täglich 15 Millionen Partien Gelegenheitssex! „Dazu gibt es viele Studien, alle in der medizinischen Literatur veröffentlich“, verweist der Neurologe. Nur in den Massenmedien liest man dazu nichts. Warum? „Weil die digitale Industrie die größte und reichste Lobby auf diesem Planeten hat“, meint Spitzer. „Amazon und Google bezahlen Journalisten dafür, dass sie schreiben, ‘digital ist großartig, kauf dieses oder jenes, sonst wird dein Kind zurückbleiben oder ein Außenseiter sein!‘ Wir verwenden eine Menge Geld und Zeit, um die Milliardäre zu füttern. Doch wir sollten nicht die Gesundheit unserer Kinder opfern, um die Interessen der reichsten Unternehmen der Welt zu unterstützen.“
Wie China und Südkorea ihre Kinder schützen
Eines der signifikantesten gesundheitlichen Probleme, die das Handy bei Kindern auslösen kann, ist Kurzsichtigkeit. Denn bei häufigem Betrachten sehr naher Gegenstände wie den Handybildschirm, dessen Licht in den Augenhintergrund fällt, muss das Auge „länger“ werden, um richtig zu fokussieren. Bei Kindern wächst es regelrecht in die Länge, was zu Kurzsichtigkeit führt. „In Deutschland liest der durchschnittliche Schüler 15 Minunten am Tag, das ist kein Problem, doch er verbringt 5,4 Stunden am Smartphone“, illustriert der Experte und fügt an, dass bereits 30 bis 40 Prozent der Kinder in der EU kurzsichtig sind. In China sogar 80 und in Südkorea 95 Prozent! Das Problem besteht nicht nur darin, dass immer mehr Menschen Brillen tragen, sondern dass Kurzsichtigkeit als einer der Risikofaktoren für Blindheit gilt. Ein bestimmter Prozentsatz der Kurzsichtigen wird im Alter erblinden und fällt dem Staat entsprechend zur Last.
Aus diesem Grund hat China bereits Maßnahmen ergriffen: Per Gesetz dürfen Kinder das Handy nicht mehr in der Schule benutzen und müssen die Pausen obligatorisch im Freien verbringen. Denn Zeit in hellem Tageslicht und mit weitem Fokus wirkt der Tendenz zur Kurzsichtigkeit entgegen.
Auch Südkorea – nicht nur einer der größten Handy-Produzenten, sondern auch ein Land mit 40 Prozent Smartphone-Süchtigen – hat gesetzliche Schutzmaßnahmen getroffen. Dort gibt es obligatorische Software für Kinder, die Sex-Seiten blockiert und den Eltern automatisch eine Nachricht zuschickt, wenn das Kind die empfohlene Smartphone-Zeit überschritten hat. Und nach 24 Uhr gibt es keinen Zugang mehr zu Online-Spielen.
Sogar die Erde erwärmt sich durch Internetverkehr
Wenn die Anhänger von Greta Thunberg das wüssten! Manfred Spitzer überrascht mit der Behauptung, dass Internetverkehr einen signifikanten Beitrag zum weltweiten CO2-Fußabdruck leistet: derzeit seien es vier Prozent, „ein Drittel davon Pornographie, ein Drittel Netflix und Serien und ein weiteres Drittel Video-Chatting“, schlüsselt er auf und meint, dies sollte uns ernsthaft Sorgen bereiten. Denn mit der stetigen Zunahme der Pixel wächst auch der Datenverkehr: 2050 soll er bereits 8 Prozent betragen. „Das ist in etwa so viel wie der Luftverkehr!“ Schmunzelnd fügt er an: „Ich frage mich, was passiert, wenn die Fridays-for-Future-Kids das bemerken. Es gibt ja schon jetzt diese Scham beim Fliegen. Vielleicht sollten wir uns auch schämen, das Telefon zu benutzen, denn es trägt zur globalen Erwärmung bei.“
Manipulation von Wahlen und Kaufverhalten
Social Media spielen eine bedeutende Rolle bei der Manipulation von Menschen. Dass Facebook Wahlen beeinflusst hat, ist längst bewiesen, erklärt dazu Manfred Spitzer. Eine wichtige Rolle spielen dabei Fake News. Warum diese so effizient sind, zeigt eine Studie, bei der 126.000 Twitter News auf Schnelligkeit und Reichweite untersucht wurden. Dabei stellte sich heraus, dass sich Fake News ungleich schneller und weiter verbreiten als die Wahrheit. Warum? Weil sie interessanter sind! „Wenn man ‘zwei plus zwei ist vier‘ twittert, was wahr ist, wird das niemanden interessieren“, illustriert der Experte. „Doch wenn in einer Titelzeile steht ‘Der Papst ist schwanger‘, ist Beachtung garantiert.“ Unwahrscheinliche Informationen sind interessanter, erklärt dazu Spitzer.
Aber auch die oft allzu leichtfertig vergebenen Likes auf Facebook nützen dem Betreiber für die Beeinflussung des Kaufverhaltens. Facebook erstellt daraus ein Persönlichkeitsprofil auf Basis des Fünf-Faktoren Modells (Anm.: Diesem zufolge existieren fünf Hauptdimensionen der Persönlichkeit, nach denen sich jeder Mensch auf folgenden Skalen einordnen lässt: Aufgeschlossenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und emotionale Labilität). Damit können Werbeinhalte maßgeschneidert verteilt werden, was den Online-Verkauf erwiesenermaßen um 50 Prozent gesteigert hat, so Spitzer. Das Erschreckende daran: Nach nur neun Likes kennt einen Facebook so gut wie ein Arbeitskollege, nach 60-70 Likes so gut wie ein Freund oder Mitbewohner, nach 250-300 so gut wie ein Ehepartner. Im Durchschnitt verfügt Facebook für jeden User über 250 Likes. Allein in Europa hat die Plattform Profile von über 200 Millionen Usern angelegt. Spitzer warnt: „Das darf nicht sein. Das ist gegen das Recht!“
Youtube und Facebook als Radikalisierer
Facebook und Youtube radikalisieren und fördern indirekt Hassverbrechen, zeigt der Neurologe weiter auf. Im Falle von Youtube sei der Algorithmus schuld, der dafür sorgen soll, dass der User so lange wie möglich auf der Plattform bleibt. „Die Weltbevölkerung guckt eine Milliarde Stunden Youtube-Videos pro Tag“, erklärt er. Und zu jedem angesehenen Video empfielt die Plattform automatisch ein nächstes, wobei 70-80 Prozent davon ebenfalls angesehen werden, fährt er fort. Um den Prozentsatz so hoch wie möglich zu halten, schlägt der Algorithmus seit 2012 zu jedem Suchbegriff als nächstes ein geringfügig „radikaleres“ Video vor. Beispiel: Sucht man „vegetarisches Essen“, landet man irgendwann bei „vegan“. Dies funktioniert natürlich auch mit weniger harmlosen Suchbegriffen. Resultat: Die Menschen werden radikaler. „Youtube ist bei weitem der größte Radikalisierer“, klagt Spitzer an.
Auch Facebook kommt nicht viel besser weg. Hasspropaganda, auf der Plattform verbreitet, führt nachweislich zu mehr Hassverbrechen, wie Untersuchungen zeigen. Zuerst wurde lediglich eine Korrelation zwischen Facebook-Nutzung in deutschen Städten und dort stattfindenden Hassverbrechen gegen Flüchtlinge festgestellt. Weil dies noch kein Beweis ist, hat man umgekehrt untersucht, was passiert, wenn die Facebook-Nutzung niedrig ist. Auf einmal gab es auch keine Korrelation mehr. „Facebook ist für Hassreden wie Benzin für Feuer!“, schließt daraus Spitzer. Ähnliches habe man für Twitter beobachtet: Je mehr Hass-Tweets, desto mehr Verbrechen.
Die deutsche Polizei beobachtet in den letzten Jahren eine Zunahme an Grausamkeit bei Verbrechen. Früher hörten die Angreifer meist auf, wenn das Opfer am Boden lag. Heute wird dann oft mit den Füßen gegen den Kopf getreten, so Spitzer. Seine Erklärung dafür ist einfach: mangelnde Empathie! Denn je mehr Zeit Kinder und junge Leute am Bildschirm verbringen, desto geringer die empathischen Fähigkeiten. Mitgefühl kann man nur durch soziale Interaktion erlernen. „Der Effekt ist messbar und durch Langzeitstudien belegt“, fügt der Experte an. Als Alarmzeichen für mangelnde Empathie und moralischen Verfall bezeichnete er die Einführung eines Gesetzes in Deutschland, demzufolge es verboten ist, bei Unfällen Sterbende zu filmen. Es zeigt, dass es offenbar eine signifikante Anzahl solcher Vorkommnisse gibt.
Gut für’s Gehirn: Humor, Tanzen und Schaffensrausch
Gedanken und Aktivitäten verändern das Gehirn physisch. Die Wissenschaft bezeichnet dies als neuronale Plastizität. Sie kann uns zum Vorteil oder Nachteil gereichen, wie obige Beispiele aufzeigen. Für eine gesunde Entwicklung eines jungen Gehirns, aber auch als Vorbeugung gegen Demenz im Alter, sind echtes Lernen, Aktivitäten in der realen Welt und zwischenmenschliche Kontakte wichtig. Den Senioren rät Spitzer schmunzelnd: „Schaffen Sie sich ein Enkelkind an!“ Denn die ständigen Fragen der Kleinen lassen einen immer wieder an Grenzen stoßen, fordern Denken und Kreativität heraus. Humor, Tanzen oder Theaterspielen wirken viel besser als Sudoku und Kreuzworträtsel!
Es gibt aber noch ein weiteres Geheimnis, das mentale Gesundheit fördert: Experten bezeichnen dies als Flow-Zustand - das als beglückend erlebte Gefühl völliger Vertiefung und restlosen Aufgehens in einer Tätigkeit. Eine Art Schaffensrausch, wie sie Künstler, Wissenschaftler, Tüftler, Extremsportler oder Schriftsteller nur allzu gut kennen. Auch Projekte, die einen für längere Zeit in Anspruch nehmen, so dass man ständig an den nächsten Zwischenschritt denkt, sind gut für einen gesunden Geist. Dabei sollte man sich nicht kritisieren, wenn etwas ewig lange nicht fertig wird, denn offene Dinge lassen uns ständig weiter denken. „Der Flow-Zustand kann Depressionen reduzieren, man ist glücklicher - man denkt nicht nur an sich, sondern an etwas Konstruktives“, erklärt der Neurologe.