Der Autor Anton Sterbling, Mitbegründer der „Aktionsgruppe Banat“, emeritierter Soziologieprofessor an verschiedenen deutschen Universitäten, hat durch seine Sachbuch- und belletristischen Veröffentlichungen das Interesse der Fachwelt wie das einer breiten Leserschaft geweckt und ist literarisch vielseitig und erfolgreich aktiv.
In seinem Erzählband „Die versunkene Republik“ werden acht lose miteinan-der verbundene Erzählungen an den Leser herangetragen. Zum Teil sind diese mit denen des vorherigen Bandes „Klimadelirium – und andere furchtbare Erzählungen“ thematisch verbunden.
In der Erzählung „Die versunkene Republik“ (S. 7-40) werden historische Ereignisse der Zwischenkriegs- und der Folgezeit mit Retrospektiven ins 19. Jahrhundert in die Arbeit eines zum Stadtschreiber berufenen, auf dem Kirchturm der katholischen Kirche des Ortes agierenden Schriftstellers festgehalten: Anhand interessanter Umgestaltungen in einer Kleinstadt im westlichen Banat, das Zusammenleben diverser Ethnien, die damit verbundenen Alltagserlebnisse und wohl auch die kurzlebige „Banater Republik“ ( 01.-15. November 1918) werden dem Leser in Erinnerung gerufen. Genaue Ortsbeschreibungen, Rückblicke auf die im Ort und seiner Umgebung erfolgten Veränderungen nach der k.k. Zeit runden das Gesamtpanorama mit Einblicken in das vormalige Privatleben des in diesem Städtchen aufgewachsenen Stadtschreibers ab.
Dem Autor geht es als Soziologe nicht nur, aber besonders auch um das Zusammenleben verschiedener Ethnien in einer Region, dessen Völkergemisch nicht bunter sein könnte, denn das am Schnittpunkt zwischen Ostmitteleuropa und Mitteleuropa gelegene geschichtsträchtige Gebiet ist seit Jahrhunderten pluriethnisch und multikulturell geprägt.
Interethnisches Zusammenleben im besagten Banater Raum mit all seinen Begleiterscheinungen und während sowie nach dem Zweiten Weltkrieg mit diversen Auswüchsen ist Thema der Erzählung „Der serbische Kaufmann“ (S. 41-70). Dieser hält zu seinem banatschwäbischen Jugendfreund und dessen Familie, trotz der aufflammenden kriegsbedingten Widrigkeiten zwischen Banater Serben und Banater Schwaben, selbst als er von den eigenen serbischen Landsleuten ins Abseits gerät und schließlich – wie viele Deutsche, auch Rumänen und Serben entlang des Grenzstreifens zu Jugoslawien wegen der Tito-Stalin Krise – Anfang der 50er Jahre in die Bărăgan-Steppe in Ostrumänien an der unteren Donau deportiert und dort zu Tode gekommen ist.
Karrieristen auf der kommunistischen Aufstiegsleiter werden in der Erzählung „Tod in Moneasa“ (S. 71-110) verfolgt, die Art und Weise, wie durch Familienbande, Korruption, Hinterlist, krumme Gepflogenheiten in Gesellschaft und Wirtschaft und selbst Mord für skrupellose Individuen scheinbar unbedeutend erscheinen. Soziale, wirtschaftliche und selbst Staatsgrenzen sind keine Hindernisse zur Erreichung eigener machthaberischer Ziele, selbst Studiengänge werden irgendwie und auf unfaire Weise zum Abschluss gebracht: Die hierfür eingesetzten Mittel bedeuten für Nomenklaturisten realisierbare Kleinigkeiten, die auch von Untergebenen mitgetragen werden müssen, falls sie keinen Unannehmlichkeiten ausgesetzt werden wollen. Auslandsreise in den Westen und Geschäftsverbindungen zu diesem ermöglichen die Ansammlung von ansehnlichen Vermögen auf geheimen Auslandskonten, die, nach der Absetzung in den Westen, eine bequeme Lebensweise ermöglichen, doch Wendehals bleibt Wendehals, selbst nach den Umsturzereignissen der Jahre 1989/90.
Die Gepflogeneheiten in der Rekrutierung bzw. Anwerbung von Sportlern im Allgemeinen und Fußballspielern im Besondern durch Armeevereine im kommunistischen Rumänien werden minutiös geschildert, denen das Blaue vom Himmel versprochen wird, die ihr angestammtes Zuhause im familiären Kreise aufgeben, ja selbst auf die Schulausbildung verzichten, in der Hoffnung, dass sie nationale Sportgrößen oder gar international zur Geltung gelangen werden; doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Nach dem Leistungsabfall werden diese Ex-Sportler dem eigenen, meist trist verlaufenden Schicksal kümmerlich überlassen, um die der sprichwörtliche Hahn nicht mehr zum Krähen kommt („Der verspätete Geigenspieler“ S. 111 - 154).
Zurückgezogen und ungepflegt lebte am Rande der Banater Kleinstadt „Ilie der Lügner“ (S. 155 - 182 ), auf den jedoch das Lügner-Attribut keinesfalls zutrifft, doch unter diesem Namen war er den Bewohnern bekannt geworden, obwohl niemand wusste, woher er kam und wer er tatsächlich war bzw. womit er sich beschäftigte. Im Zuge des Handlungsablaufes stellt sich jedoch heraus, dass er in der Zwischenkriegszeit Mitglied einer rechtsnational orientierten Vereinigung war, in Oxford studiert hatte und später mit seinem Zwillingsbruder den Vornamen getauscht hatte, um sämtlichen Verdächtigungen entkommen zu können, was ihm keinesfalls gelang und er 20 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbringen musste. Nach der sogenannten Wende 1990 und nachdem seine Partei erneut zulässig geworden war, wagte er sich an die Öffentlichkeit, wobei er den Namenswechsel mit seinem Bruder dem Erzähler offenbarte, der ihm seinerseits mitteilte, dass er einem jungen Geschichtsdozenten, der es später zu einer beeindruckenden Karriere als Historiker gebracht hatte, seine – Ilies Schicksal – erzählt hatte und der Dozent sich als Zuträger des Geheimdienstes Securitate entpuppte und vermutlich für Ilies Gang ins Gefängnis mitverantwortlich gewesen war.
Die sonderbaren und möglich wie unmöglich anmutenden Geschichten in kommunistischen Ländern Osteuropas erfahren in der Erzählung „An der Grenze erschossen?“ (S. 183-216) eine interessante Entwicklung und prallen auf die Skurilität der sich abrollenden Handlung, wo Gutgläubigkeit, Hinterlist, Verbrechen und scheinbare Ausweglosigkeit letztlich doch noch einem positiven Ausgang zugeführt werden.
Die Schwierigkeiten eines aus einem südosteuropäischen Land stammenden Exilschriftstellers im Zuge der Fußfassung in Deutschland, die möglichen Gefahren, denen dieser im täglichen Leben ausgesetzt werden könnte, die Nachstellungen seitens gewisser Kreise und deren Interessen sind in der Erzählung „Exilschriftsteller“ (S.217 - 233) plastisch festgehalten, wo der Literat von einem Augenblick zum anderen in Situationen taumelt, denen er nicht gewachsen zu sein scheint.
In der Erzählung „Spielwunderwelt“ (S.235 - 278) eröffnen sich dem Studierenden und späteren Doktor der Wissenschaften mannigfache berufliche Möglichkeiten, verbunden mit sonderbaren vorübergehenden berufsfernen, jedoch einträglichen Beschäftigungen, die eine gewisse Flexibilität im wirtschaftlichen Engagement voraussetzen.
Das bereits in Anton Sterblings Erzählband „Klimadelirium“ wiederholt erscheinende surrealistische Symbol der schwarzen Katze schleicht auch in den Erzählungen dieses Bandes durch die Handlung und verleiht dem Geschehen eine gewisse unverkennbare Mystik, die zur Spannung des Geschehens beiträgt.
Die in dem Erzählband fiktional übertünchte Realität lässt auch biographische Elemente des Autors erahnen. Die meisten Handlungsabläufe sind in der Banater Kleinstadt – unverkennbar die Geburtsstadt des Autors: Groß-Sankt-Nikolaus (rumänisch Sânnicolau - Mare, ungarisch Nagy-Szént-Miklos, serbisch Veliki Semiklush) – im Westbanat bzw. Westrumänien angesiedelt. Von dort strahlt der Verlauf der Handlungen ins ganze Land und über die Landesgrenzen hinaus aus.
Wenn der Autor in einer Buchbesprechung vom Rezensenten als „rumänischer Kafka“ apostrophiert wird, so trifft das keinesfalls zu, denn Sterbling hat weder in rumänischer Sprache geschrieben, noch in Rumänien, sondern in Deutschland seine Werke veröffentlicht. Niemand würde es z.B. einfallen, den in Sighetu Marma]iei (Rumänien) geborenen Elie Wiesel als einen rumänischen Schriftsteller zu bezeichnen.
Will man jedoch unbedingt den Kafka-Vergleich strapazieren, so würde eher das Attribut „Banater Kafka“ zutreffen.