Morgens im Dorf an der Bushaltestelle: Neugierige Blicke bohren sich in meinen Rücken. Den Tretroller zusammengefaltet und geschultert, bin ich für einige nach Bukarest Pendelnde immer noch eine kleine Sensation. „Ist der elektrisch?“ fragt auch der neue Fahrer, weil er sich nicht vorstellen kann, dass man als reifere Dame zur Fortbewegung mit den Füßen tritt. Kuriosität jedoch liegt in den Augen des Betrachters. Und da spielt sich auch vor meinen einiges ab, morgens an der Bushaltestelle...
Da wäre die betagte Bäuerin, die beherzt aufs Radl steigt, losfährt und dem jungen Mann hinter ihr – offenbar ihr Sohn – zuruft: „Spring schon auf!“ Dann nimmt dieser gerade noch rechtzeitig Anlauf und schwingt sich in eine Art improvisierten Sessel auf dem Gepäckträger, mit einem Kissen weich ausgepolstert, und Mama tritt kräftig in die Pedale. „Der sollte lieber seine Mutter fahren”, kommentiert eine Stimme neben mir. Doch wahrscheinlich hat sie den kleinen Prinzen schon so zum Kindergarten gefahren und die beiden kommen gar nicht auf die Idee, das gewohnte Ritual zu brechen. Oder sie hat noch nicht bemerkt, dass der Bub erwachsen geworden ist.
Während ich noch schmunzle, fährt direkt vor meiner Nase die nächste Kuriosität vorbei: Ein alter Mann auf einem schweren, schwarzen Waffenrad, mit Hut und sichtlich feingemacht, wenn auch der Mode der Zwischenkriegszeit entsprechend. Gemächlich strampelt er, die Knie weit nach außen gedreht, mit hocherhobenem Haupt, irgendwie würdevoll und – sehr behutsam. Mit gutem Grund: Hinter ihm thront auf dem Gepäckträger huldvoll wie eine Königin die Gattin – im eleganten Damensitz! Der adrette Haarknoten, ein wadenlanger Rock, Damenstrümpfe und braune Schuhe mit einem kleinen Absatz verraten: Da geht es zum Bürgermeister, zum Doktor oder zum Pfarrer, mindestens aber zum Gemeindesekretär.
Ein Fahrrad hat viele Gesichter. Und unerschöpfliche Verwendungsmöglichkeiten: Etwa zum Transport von Gasflaschen, quer auf dem Gepäckträger festgeschnallt oder im extra dafür zusammengeschweißten rostigen Metallanhängerchen. Jugendliche schaffen es bisweilen, zu dritt, viert oder fünft auf einem Herrenrad mit Stange zu turnen und sich dabei auch noch schlingernd fortzubewegen. Meist in der Dämmerung und ohne Licht, zur Freude der Autofahrer, die dann brüsk von 120 auf 100 runterbremsen müssen, hupen und wie die Bierkutscher fluchen. So eine langgestreckte, asphaltierte Dorf-Rennstraße mit 50 km/h entlang zu kriechen wäre ja auch mehr als peinlich...
Auch für den Transport von Spirituosen bietet sich das Fahrrad an. Am besten intus, damit die Flaschen nicht vom Gepäckträger rollen. Die vor fast jedem Dorfladen improvisierte Freiluftkneipe wird so tagtäglich zur Quelle unzähliger schwankender Greise, die zwar nicht mehr aufrecht stehen können, doch Schlangenlinien mit dem Fahrrad fahren, das geht gerade noch.
Überhaupt verwandelt sich so eine Dorfstraße in der Dämmerung in einen Rummelplatz. Fußgänger tauchen von überall auf und latschen nebeneinander am Straßenrand entlang, den (sogar vorhandenen) Gehsteig hartnäckig ignorierend. Jugendliche stehen rauchend an den Ecken und schmeißen mit Kippen, Kaffeebechern und Chipstüten um sich. Pferdewagen fahren natürlich auch ohne Licht – nichtmal ein Katzenauge ist ihnen ihre Sicherheit wert! Dass Pferdewagen wirklich niemals beleuchtet sind, lässt mich ungefähr folgendes Szenario vermuten: Der Kutscher betritt einen Eisenwarenladen. „Guten Tag, ich hätt gerne eine möglichst billige LED-Leuchte.“ „Für Fahrrad oder Tretroller?“ „Für – ähm, Pferdewagen.“ „Pferdewagen? Hoho, kennen Sie die EU-Sonderregelung Nr. 08/15 nicht? Aber wir könnten Ihnen gerne eine EU-genormte Pferdewagenbeleuchtung, Modell ‘Hippo-Bruxelles 2000’ für 199 Lei bestellen, mit Lichthupe, Warnblinkanlage, Nebel-Lichtorgel, auf Wunsch in den drei Nationalfarben. Passt dank flexiblem Riemen auf jeden beliebig breiten Pferdewa....“
Dem Mann, der einen Drahtkäfig, so breit wie eine ganze Fahrspur, mit dem Rad hinter sich herzieht, möchte ich hingegen einen Orden verleihen. Denn er sammelt Folien- und Plastikmüll und bringt ihn zum Recyclinghof, ein kleines Unternehmen. Den Orden braucht er freilich gar nicht, denn die Wegwerfgesellschaft – in unserem Dorf besonders fleißig, man entsorgt direkt aus dem Auto in hohem Bogen in den Straßengraben – beschert ihm bestimmt schnell unermesslichen Reichtum.