„Ich weiß, meine Hilfe ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein”, sagt die resolute Mittfünfzigerin aus Basel bescheiden und rührt in ihrem Kaffee. Wir sitzen im rosenumsäumten Garten eines Viersternehotels in Scroviştea, die Sonne strahlt vom Himmel herunter, der künstliche Wasserfall plätschert erfrischend und Tochter Nadine erzählt, wie sie beim morgendlichen Schwimmen einen Frosch aus dem Pool gerettet hat.
Man könnte meinen, die beiden Schweizerinnen, in saloppem Freizeitdress und dunklen Sonnenbrillen, verbrächten hier einen unbeschwerten Urlaub. Doch der Schein trügt. Mutter und Tochter kommen gerade aus der Bukowina zurück, aus einem einfachen Dorf namens Straja nahe der ukrainischen Grenze. Kurz vor ihrem Rückflug haben sie für eine Nacht noch einmal Plumpsklo und Brunnenwasser gegen ein bisschen Komfort eingetauscht und schwelgen in Erinnerungen an eine unvergessliche Reise.
Überwältigende Gastfreundschaft
Für Anne Bucher ist es nicht der erste Besuch in Rumänien. Längst hat sie sich in den vergangenen Jahren in Land und Leute verliebt und ist immer wieder beeindruckt von der überschwänglichen Gastfreundschaft, die ihr selbst von den einfachsten Leuten entgegengebracht wurde.
Lachend erzählt sie, wie die beiden diesmal mit ihrer Gastgeberin und Übersetzerin, der Deutschlehrerin Elena Irimiciuc, von einem Haus zum anderen gereicht wurden, wo jedesmal wieder ein volles Menü und der obligate Palinca auf sie warteten. Von der anstrengenden Tour zurückgekommen, meinte Elena dann: „So, und jetzt essen wir erst mal was!” Nadine berichtet von Tanti Voichiţa und ihren schillernden Eheschwänken, von Elenas Vater, der nach drei Schnäpsen auf einmal überraschend Deutsch zu sprechen begann und dass Elena ihnen ihr Schlafzimmer anbot und selbst auf dem Sofa nächtigte. Eine Nachbarsfamilie, die eine kleine Schuhfabrik betreibt, schenkte den Besucherinnen sogar je ein Paar Schuhe! Doch die unvermeidlichen geselligen Lustbarkeiten waren nicht der eigentliche Grund für den Besuch der beiden Frauen in der Bukowina...
Eine Adoptivfamilie in der Bukowina
Seit über 15 Jahren unterstützt Anne Bucher eine in ärmlichen Verhältnissen lebende, zehnköpfige Familie im nahegelegenen Brodina, schickt Pakete mit Kleidern, Lebensmitteln, Küchenutensilien oder auch Geld. Vor vier Jahren reiste sie dann zum ersten Mal persönlich in die Bukowina. Da stand sie auf einmal der Frau gegenüber, die sie jahrelang nur aus übersetzten Briefen kannte: Elisaveta Piteliec.
Die etwa gleichaltrige Rumänin konnte vor Rührung kaum sprechen. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, als sie auf Anne Bucher zuging und diese einfach umarmte - der Beginn einer herzlichen Freundschaft. Zum ersten Mal sah sich Anne mit den Lebensbedingungen ihrer „Adoptivfamilie” direkt konfrontiert, nahm teil an ihren Sorgen und Nöten.
Es war ihr peinlich, dass sie üppig beschenkt wurde, mit kunstvoll bemalten Eiern und filigran gehäkelten Spitzentischdecken. Befremdlich erschien ihr, dass das Essen nur für die Gäste aufgetischt wurde, die Familienmitglieder saßen daneben und sahen zu. Elisaveta Piteliec ließ Elena übersetzen, dass sie sich einst verzweifelt an eine Wahrsagerin gewandt hatte, weil sie nicht mehr weiter wusste. Da beruhigte sie die alte Seherin mit den Worten: „Du wirst sehr bald Hilfe erhalten”. Tatsächlich trudelte kurz darauf das erste Paket aus der Schweiz ein.
Dankbarkeit für das eigene Glück
Anne Bucher erinnert sich, wie sie damals von ihrer Schweizer Chorkollegin Silvana Lüdi – Präsidentin einer Hilfsorganisation mit Wirkungsfeld in Straja, Brodina und Oberwischau/Vişeu de Sus – angesprochen wurde, ob sie eine bedürftige Familie in Rumänien unterstützen wolle. Die Sozialpädagogin, die beruflich mit geistig behinderten Erwachsenen arbeitet und privat schon jahrelang Familien aus der ehemaligen DDR betreut hatte, sagte begeistert zu.
Zwei bis dreimal im Jahr schickte sie umfangreiche Pakete, die über die Vereinigung „Einander helfen“ geliefert wurden und tatsächlich immer ankamen. Zwei Arbeitskolleginnen begeisterten sich ebenfalls für die Idee und “adoptierten” eine rumänische Familie. Bekannte und Verwandte spendeten oder halfen beim Sammeln.
Die Buchers sind nicht reich, doch sie leben in einem schönen Reihenhaus in einem Vorort von Basel. Vater Jürg ist Versicherungsvertreter, die ältere Tochter Beatrice arbeitet als Drogistin und die 21-jährige Nadine wird in Kürze ein Sozialpädagogikstudium in Kombination mit Sozialarbeit beginnen. Anne ist dankbar, dass sie in gesicherten Verhältnissen lebt und hatte immer das Bedürfnis, auch anderen Menschen etwas davon abzugeben.
Den Überlebenskampf vor Augen
Vor allem das Schicksal der Piteliecs führt ihr immer wieder vor Augen, wie gut es der eigenen Familie geht. Elisaveta und Vasile Piteliec leben mit sieben Töchtern und einem Sohn in einem einfachen Holzhaus mit zwei Zimmern, einer winzigen Küche, einer ausgelagerten Sommerküche und einem Plumpsklo im Hof. „Das muss man auch im Winter bei minus 30 Grad aufsuchen”, bedenkt Anne Bucher und fragt sich, wie sie sich wohl waschen, denn Badezimmer gibt es keins.
Die Mutter schläft mit den Mädchen auf zwei Doppelbetten verteilt in der einen Stube, der Vater mit dem Sohn in der anderen. Elisaveta ist Hausfrau und leidet an Diabetes, ihr Mann ist herzkrank, hat mehrere Bypässe und kann nur noch leichte Arbeiten verrichten. Früher war er in einer Schreinerei angestellt, deren Besitzer ihm die Herzoperation bezahlt hat, denn sonst wäre der Mann gestorben. Die älteste Tochter Maria hat gerade geheiratet und zieht demnächst mit ihrem Mann und der jüngeren Schwester Dorina nach Spanien.
Dorina hat dort einen Job in einer Hähnchenfabrik gefunden. Die drittälteste Tochter arbeitet in der lokalen Schuhfabrik und die jüngeren Mädchen gehen noch zur Schule. Der Sohn verdingt sich als Kuhhirte und sammelt zweimal am Tag die Rinder der Dorfbewohner ein, die er auf die Weide führt. Familie Piteliec lebt weitgehend von den Erträgen des eigenen Hofs, hält Kühe und Hühner. Anne wundert sich, wie Elisaveta noch Zeit für die Pflege des üppigen Blumengartens bleibt.
Großzügige Gaben „vom lieben Gott“
Als sie sich während des letzten Besuchs bei Elena erkundigte, was die Familie am dringendsten braucht, erfuhr sie, dass Waschmaschine und Gefrierschrank den Geist aufgegeben hatten. Sie wusste, dass die Piteliecs die Geräte nicht ersetzen können und fragte sich, wo sie denn nun das Fleisch einfrieren sollen, wenn wie üblich für den Winter eine Kuh geschlachtet würde? Und wie wäscht man Wäsche von zehn Menschen, davon vier Schulkindern, die immer adrett aussehen müssen, ohne Waschmaschine?
Ein absoluter Notfall, rechtfertigte Anne Bucher ihre Entscheidung, als sie Elisaveta Piteliec kurz entschlossen in den nächsten Elektroladen schleppte. Etwa 600 Euro musste die Schweizerin für beide Geräte hinblättern, aber „ich kann das Geld wenigstens wieder verdienen“, dachte sie. Als Elisaveta völlig überwältigt zögerte, das großzügige Geschenk anzunehmen, überzeugte Anne die tief religiöse Frau resolut. „Das hat der liebe Gott so entschieden“, sagt sie in einem Geistesblitz und deutet nach oben: „Von dort kommen die Gaben!”
Erlebnisreise in die Schweiz
Letztes Jahr fuhren die beiden ältesten Töchter Maria und Dorina Piteliec zusammen mit Übersetzerin Elena für eine Woche in die Schweiz. Nach der Abholung vom Busbahnhof – die Buchers hatten ihnen die Fahrt spendiert–- kehrten sie in einem Ausflugslokal ein. Die Gäste wurden aufgefordert, sich auf der Eiskarte etwas auszusuchen. Doch nachdem die drei minutenlang die Eisbecher auf der Karte bestaunt hatten, meinten sie schließlich hilflos: „Sucht ihr etwas für uns aus, die Auswahl ist zu groß!” Auch von dem Fernseher im Gästezimmer waren die Mädchen sehr angetan.
Zwei Tage lang rührten sie das Gerät nicht an, bis Anne es ihnen zeigte. Danach flimmerte es jeden Abend blau hinter dem Fenster. Familie Bucher unternahm mit den Mädchen eine Rundreise durch die Schweiz und Nadine und Beatrice schleppten ihre neuen Freundinnen zum Stadtbummel, zum Bowling, fuhren mit der Fähre über den Rhein oder probierten zu Hause gemeinsam Gesichtsmasken aus. Auch die Dusche begeisterte die Mädchen, die von zu Hause kein Badezimmer kennen.
Zweimal am Tag genossen sie es, im warmen Wasserstrahl zu schwelgen, der auf so wunderbare Weise direkt aus der Wand kam. Endlich durften die Mädchen auch ihre heißgeliebten Hosen tragen! Die Mutter bestand sonst immer auf Röcken, doch Lehrerin Elena hatte resolut behauptet: „Auf Reisen trägt man Hosen!“
„Armut ist nicht gleich Armut“
Auch Nadine hat die Reise nach Rumänien beeindruckt. Zwei Tage lang machten die Frauen die Sehenswürdigkeiten von Bukarest unsicher, bevor sie mit dem Zug nach Suceava fuhren. „Man müsste viel mehr Werbung für Rumänien als Reiseland machen“ meint sie und will auf jeden Fall wiederkommen. Am stärksten jedoch hat ihr die Gastfreundschaft der einfachen Leute auf dem Dorf imponiert. “Armut ist nicht gleich Armut”, beobachtete sie und meint, dass die alten Leute trotz einfacher Lebensbedingungen einen recht zufriedenen Eindruck gemacht hätten.
Gegenseitige Besuche und ein bißchen Dorfklatsch reichen wohl aus für das kleine Glück. Bedrückend empfand sie nur die Fälle, wo Armut, Krankheit und Hoffnungslosigkeit zusammentreffen. Anne erwähnt das Beispiel einer Frau, die sich mit Kuchenbacken und Marmelade Einkochen ein wenig Geld dazuverdient. Ihr Mann liegt für längere Zeit im Krankenhaus und eine Tochter ist schwer epilepsiekrank, mit bis zu fünf Anfällen am Tag nahezu ein Pflegefall. Die übrigen Kinder besuchen noch die Schule, doch für die Schulsachen reicht das Geld hinten und vorne nicht. Anne gibt auch ihr eine großzügige Spende und sagt schon wieder: „Ich weiß, es ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein“.
Die Menschen, denen sie so selbstlos zur Seite steht, sehen dies sicher anders. Für sie kommt der Tropfen in einem Moment, in dem man gar nicht an die Zukunft denken kann, weil das akute Problem die Sicht verstellt. Für sie ist Anne wohl eher ein Engel – ein Engel, der die Geschenke vom lieben Gott auch noch persönlich überbringt...