„Lass uns leben, so wollen wir deinen Namen anrufen.“ (Psalm 80,19)
Was sind wir Menschen doch für seltsame Kreaturen! Wir bauen und pflanzen und sammeln. Wir häufen Dinge an, wir trachten nach Ehre, Macht und Ruhm und verteidigen, was wir gehortet haben, wenn es sein muss, auch durch unlautere Mittel. Haben und Sein ist alles, was zählt.
Was passiert aber, wenn unser Leben selbst in Gefahr gerät, wenn es durch eigenes Verschulden, Naturkatastrophen oder andere Menschen bedroht wird? Was würden wir da nicht alles hergeben, um das nackte Leben zu erhalten! Reichtum, Ehre oder Macht sind in diesem Fall vollkommen nebensächlich, denn sie nützen uns ja nur, solange wir leben.
Der Beter des 80. Psalms erzählt vom Leben und Gedeihen des auserwählten Volkes unter Gottes Schutz und Führung, das aber durch fremde Mächte jäh beendet wurde. In dieser Situation, in der er sein Leben und das Überleben des Volkes nicht nur bedroht sieht, sondern den schon geschehenen Untergang beklagt, sagt er: „Lass uns leben (in der hebräischen Sprache noch intensiver: mach uns wieder lebendig), so wollen wir deinen Namen anrufen!“
Wenn es uns schlecht geht – und oft erst dann –, erinnern wir uns an Gott. Dann erkennen wir, dass es außer uns und unserem Trachten nach irdischen Gütern noch etwas anderes gibt, was das Leben ausmacht.
Das ist wie in der Geschichte mit dem Spiegel, in der ein weiser Mann einem geizigen Menschen die Augen für das Leben öffnet. Ein Geizhals kommt zu dem weisen Mann und beschwert sich, dass er ständig Angst habe und nicht schlafen könne. Der weise Mann lässt ihn aus dem Fenster sehen und beschreiben, was er sieht. Er beschreibt Menschen, Bäume, Häuser... Dann lässt er den Geizhals in den Spiegel schauen und beschreiben, was er da sieht. Es ist sein eigenes Bild, das er sieht. Wie sehr das bisschen Silber auf der Rückseite des Spiegels die Sichtweise verändern kann!
Wie sehr uns Geld und Gut daran hindern können, auch etwas anderes als das eigene Bild zu sehen! Wir werden am Leben gehindert, wenn wir uns mit dem Glanz umgeben, der immer nur unser eigenes Bildnis widerspiegelt. Leben ist so viel mehr! Leben ist Sehen, wie der Blinde aus dem Lukasevangelium (Kapitel 18,35-43), der Jesus hinterherruft und um Heilung bittet, sehr wohl erkennt. Er will nicht Reichtum oder Macht. Er will sehen! Und dieser sehnliche Wunsch wird von Jesus als Glauben bezeichnet, aufgrund dessen er ihn heilt.
Leben ist Sehen: die Not sehen und einschreiten, die Freude sehen und mit anderen teilen, die Angst sehen und sich ihr entgegenstellen, den Zufluchtsort sehen und ihn bei Bedarf aufsuchen. Leben ist auch, ab und zu einen Blick in den Spiegel zu werfen und festzustellen, wie viel ich verpasse und wie einseitig mein Leben ist, wenn ich mich auf mein Spiegelbild beschränke.
Leben ist letztlich weit mehr als das, was wir uns selber erarbeiten und was wir im Spiegel betrachten können. Leben ist ein Geschenk Gottes, für das wir ihm danken und das wir mit anderen teilen sollen, damit es seiner Bestimmung entspricht. Leben aus Gottes Hand ist ein Leben, das sich draußen, vor dem Fenster abspielt, und in dem Gott als Bezugspunkt einen festen Platz einnimmt.