Seit Anfang der 1990er Jahre kümmert sich der aus Meckenbeuren stammende Salvatorianer-Pater Berno Rupp um Straßenkinder, Obdachlose und sozial Schwache im Westen Rumäniens. Dieser Tage erhielt er Besuch von einer 30-köpfigen Delegation aus dem Bodenseekreis. Die Teilnehmer zeigten sich von der Arbeit des 79-Jährigen tief beeindruckt und sie unterstützen ihn weiterhin über die vor zwei Jahren gegründete Pater-Berno-Stiftung.
Laura, 15, blickt konzentriert nach vorne, faltet sorgfältig Papierblätter, schneidet runde Formen aus. Erst die Papiere falten, dann miteinander verkleben: Nach ein paar Minuten entsteht das Modell eines blütenweißen Schwans. Laura schaut sich ihr Werk zufrieden an – geschafft! Dennoch mischt sich ein Anflug von Traurigkeit in den zufriedenen Gesichtsausdruck. Laura spricht wenig, gibt sich, wenn Besucher eintreten, eher scheu. Laura hat beide Eltern verloren: Sie ist Vollwaise, so wie alle neun Mädchen und Jungen, die an diesem Tag im Bastelraum zusammengekommen sind. „Manche von uns haben zwar Eltern, wissen aber nicht, wo sie sind. Und manche von uns haben eben keine Eltern mehr. Die sind gestorben.“
Dana, 23, ist eine aufgeweckte junge Frau. Als plötzlich die Tür aufgeht und ein zwei Meter großer Mann mit riesigem grauen Bart eintritt, hellen sich ihre Gesichtszüge auf: „Das ist unser Freund. Unser bester Freund!“ Ohne den Mann, der da eintritt und zufrieden lächelt, gäbe es das Waisenhaus am Rande von Temeswar/Timişoara wahrscheinlich gar nicht: Pater Berno Rupp, aufgewachsen in Bergatreute und in Meckenbeuren (Bodenseekreis), gilt als der „soziale Macher“ schlechthin in der Region. Seit Anfang der 1990er Jahre bringt er, in Zusammenarbeit mit der regionalen Caritas, ein Sozialprojekt nach dem anderen auf den Weg: Erst ein Nachtasyl für Obdachlose, dann das Waisenhaus. Schließlich ein Hospiz für todkranke Menschen und ein Frauenhaus, in dem junge Frauen mit ihren Kindern leben, die von ihren Männern verprügelt, verstoßen, manchmal sogar vergewaltigt wurden.
Landsleute beim Neubeheimateten
Dieser Tage erhielt der umtriebige Pater Besuch aus seiner Heimat. Gleich 30 Frauen und Männer aus Meckenbeuren besuchen ihn in seiner Wahlheimat Temeswar, staunen über die zupackende Art des 79-Jährigen, der gerne noch selbst die Suppe zur täglichen Armenspeisung bringt, Teller abwäscht und mit den Kindern im Waisenhaus eine Runde Tischfußball spielt. Der Mann ist ein Phänomen, eine Ausnahmeerscheinung, wie gemacht für ein postkommunistisches Land wie Rumänien, in dem die Reichen gerne mit schnellen Autos über die Straßen brettern und mit schicken Kleidern in eleganten Lokalen flanieren. Die Kehrseite: Der Staat tut nur wenig für die sozial Schwachen, für die Ausgestoßenen der Gesellschaft.
Daran, erzählt Pater Berno, habe sich bis heute kaum etwas geändert: „Ab und an reden die Parteien mal davon. Aber niemand macht etwas.“ Das war vor 24 Jahren nicht anders: Anfang der 1990er Jahre kommt Pater Berno eher durch Zufall nach Rumänien, mit Zug und Fahrrad. Der Salvatorianer-Orden, dem der bekennende Oberschwabe angehört, sucht jemanden, der das einst von den kommunistischen Machthabern konfiszierte Salvatorianer-Kloster in Temeswar wieder betreuen und führen soll. „Und für die orthodoxe Liturgie habe ich mich immer schon interessiert“, so Pater Berno. Also packt er seine Siebensachen und fährt ins Banat.
Dort kommt es zu einer Erfahrung, das das Leben von Pater Berno einschneidend verändern wird: Er arbeitet zunächst als Pfarrer. „Und da bin ich natürlich auch für die Trauerfeiern bei Bestattungen zuständig gewesen.“ Eines Tages muss Pater Berno ein gerade vier Wochen altes Baby beerdigen. „Dieses Bild“, erzählt er mit stockender Stimme, „werde ich nie vergessen“: Die junge Mutter leidet derart stark an Hunger, dass sich keine Muttermilch bildet; ihr Baby trocknet regelrecht aus. Selbst heute, fast ein Vierteljahrhundert später, kommen Pater Berno immer noch die Tränen, wenn er diese Geschichte erzählt.
Dann ein weiteres einschneidendes Erlebnis: Ein bitterkalter Winter – und viele Obdachlose auf den Straßen, die nicht wissen, wo sie übernachten sollen. In einer einzigen Nacht erfrieren alleine in Temeswar sieben Menschen. Pater Berno beschließt: Das muss sich ändern! Und er krempelt die Ärmel hoch. In der örtlichen Caritas, die nach der rumänischen Revolution gegründet wird, findet er einen verlässlichen Partner! „So etwas konnte, so etwas durfte so nicht weitergehen!“
Gemeinsam mit seinen Partnern wird Pater Berno zur Nervensäge, lässt sich von noch so halsstarrigen Behördenvertretern nicht abwimmeln. Er organisiert Räume, Gebäude, Genehmigungen. Und er überzeugt viele Menschen seiner alten Heimat, ihn mit Spenden und Sachleistungen zu unterstützen. Mitt-lerweile sind neben dem Waisenhaus eine Jugendfarm, ein Hospiz und ein Nachtasyl für Obdachlose entstanden. „Das Schöne ist: In den letzten Jahren ist im Winter keiner mehr erfroren“, so Pater Berno.
Auch etwas Selbstfinanzierung ist möglich
Die, die ihm zuhören, haben einen langen Weg hinter sich: Bürgerinnen und Bürger aus Meckenbeuren. Dort ist Pater Berno groß geworden, dort lebt immer noch ein Teil seiner Familie. Sein Neffe ist in der Gemeinde kein Unbekannter: Markus Müller, Fraktionsvorsitzender der CDU im Gemeinderat, sieht es als Herzenssache an, die Projekte seines Onkels zu unterstützen: „Das Problem sind nun nicht mehr die einmaligen Investitionen. Wir müssen vielmehr die laufenden Kosten decken.“ Dafür hat Müller vor knapp zwei Jahren die Pater-Berno-Stiftung ins Leben gerufen, die die Projekte des umtriebigen Salvatorianer-Paters nachhaltig unterstützt, mit rund 100.000 Euro pro Jahr.
Einen Teil der Kosten erwirtschaften die Projekte auch selbst. Beispiel: Die Jugendfarm in Bakowa, etwa 40 Kilometer östlich von Temeswar. Dort, in der Abgeschiedenheit eines Schachbrettdorfes, arbeiten ehemalige Straßenkinder, Kinder und Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen und Erwachsene gemeinsam in der Landwirtschaft. Sie halten Schweine und Kühe, bauen Getreide an; auf der Jugendfarm gibt es sogar eine eigene Getreidemühle. Die Produkte werden vermarktet; der Erlös fließt in die Projekte der Caritas. Außerdem unterstützt die Stadtverwaltung Temeswar einen Teil der Projekte finanziell und durch die Bereitstellung von Sachleistungen.
In Herbert Grün, Leiter der Caritas in Temeswar, habe er von Anfang einen Partner gefunden, der verlässlicher kaum sein könnte, freut sich Pater Berno und ergänzt: „Alleine kannst du ja gar nichts machen. Du brauchst immer Leute, die mitziehen, dich unterstützen.“ Grün macht dann auch deutlich, wo in Zukunft die Schwerpunkte der Arbeit liegen: „Es macht wenig Sinn, über neue Projekte nachzudenken. Wir müssen das, was wir haben, am Laufen halten und sinnvoll weiterentwickeln.“
Beobachtungen der Unterstützer
Sei es im Waisenhaus, im Frauenhaus oder auf der Jugendfarm: Die Besucherinnen und Besucher aus Meckenbeuren zeigen sich tief beeindruckt, allen voran Meckenbeurens Bürgermeister Andreas Schmid: „Die Arbeit von Pater Berno ist ein großer Akt der Solidarität“, begründet Schmid seine Unterstützung für die Projekte, die der Bürgermeister bereits zum zweiten Mal vor Ort besichtigt. Dabei wird er nachdenklich: Man könne bei einer solchen Reise ja auch etwas für sich persönlich mitnehmen, „beispielsweise die Erkenntnis, dass soziale Stabilität und Demokratie keine Selbstläufer sind.“ Werner Kettenacker, Vermessungstechniker aus Meckenbeuren, ist zum ersten Mal in Temeswar – und bestaunt die vielfältigen Projekte. „Wir sind in einem so reichen Land zuhause. Wir können doch ohne Weiteres hier in Temeswar unseren Beitrag beisteuern, ohne dass es irgendwie wehtut.“ So sieht das auch der Architekt und Künstler Hubert Gaupp aus Meckenbeuren. Er hat Drucke eines Holzschnittes speziell für die Pater-Berno-Stiftung mit in den Westen Rumäniens gebracht und zeigt sich tief bewegt. Er hat beobachtet, wie die rumänische Krankenschwester im Caritas-Hospiz einen sterbenden Menschen getröstet hat: „Da war plötzlich ein Leuchten in den Augen. Und da ist mir klar geworden, dass auch die leisen Töne eine Wertigkeit haben.“
Manchmal geht es aber doch ein wenig lauter zu: Die Mädchen und Jungen der „Saxomaten“, eine Gruppe der Musikschule Meckenbeuren, sind eigens nach Temeswar mitgekommen, um dort ein Konzert zu geben, wo Live-Musik ansonsten selten zu hören ist: Im Innenhof des Nachtasyls. Dort finden Nacht für Nacht über 100 Obdachlose einen Platz zum Schlafen. Die meisten, die zuhören, haben nie von Meckenbeuren gehört. Doch diejenigen, die beim Konzert die Ohren spitzen, werden den Abend noch lange in Erinnerung behalten: „Mul]u-mim mult – vielen Dank an euch“, ruft ein alter Mann spontan den deutschen Gästen zu. Er trägt lediglich eine Pyjama-Hose und einen Bademantel; mehr Kleider hat er nicht. Und dennoch erweckt er für einen Moment einen glücklichen Eindruck. Irgendwie tut es ihm gut zu wissen, dass es irgendwo noch ein Ohr für die Sorgen und Nöte jener gibt, für die in der rumänischen Gesellschaft sonst kein Platz ist.