Im Anfang sind Bachs Goldberg-Variationen. Sie rieseln auf den Zuschauer herab. Er sitzt auf der Bühne des Radu-Stanca-Theaters, um die Schöpfung der Welt vorgespielt zu bekommen. Genauer: die im Alten und Neuen Testament aufgezeichneten Geschichten, die bekanntesten natürlich. Noch genauer: Die Bibel-Highlights sollen auf eine Bühne in Jerusalem gebracht werden und der Zuschauer wohnt der Generalprobe bei. Und er bekommt Einblick in das Schlamassel um die Schöpfung der Welt, aber auch um jenes rund um die Inszenierung. Wäre Tabori nicht Tabori, er würde es dabei belassen, aber Tabori nutzt das Theater im Theater, um sich mit der Theaterwelt auseinanderzusetzen, und er verwendet die Bibelgeschichten, um seine Auseinandersetzung mit der Religion auf die Bühne zu bringen. „Das Wort ist eine geladene Waffe“, hat George Tabori gesagt. In den vom luxemburgischen Regisseur Charles Muller an der deutschen Abteilung des Radu-Stanca-Theaters inszenierten „Goldberg-Variationen“ kriegt der Zuschauer die Schüsse ab.
George Tabori, als Tábori György 1914 in Budapest geboren (2007 verstorben), bis zum siebten Lebensjahr katholisch erzogen und dann mit seiner jüdischen Abstammung konfrontiert, deretwegen er Deutschland verlassen musste, dessen Vater jedoch in Auschwitz starb, beschäftigt sich in vielen seiner Stücke auf grell-sarkastische Art mit dem Holocaust, der jüdischen Existenz, dem Antisemitismus, aber auch mit dem Vater-Sohn-Konflikt. Vor einigen Jahren war an der Hermannstädter Bühne, von Alexandru Hausvater inszeniert, „Die Kannibalen“ zu sehen, im vergangenen Jahr beim Internationalen Theaterfestival die grandiose Farce „Mein Kampf“ in der Regie von Alexandru Dabija, vom Ensemble des Klausenburger Nationaltheaters geboten.
Tabori versteht es wie andere jüdische Autoren auch, die antisemitischen Stereotypen in seine Stücke einzubauen, ohne dabei verletzend zu wirken, weil sie mit erfrischender Selbstironie gepaart sind. Was ihm gelingt, sonst aber nur sehr wenigen: den Nationalsozialismus und den Holocaust in Farcen voller Wortwitz zu zwängen, die locker zum Lachen bringen und doch bitterernst sind. Die Uraufführung erlebten die „Goldberg-Variationen“ 1991 in Wien, seine Premiere in Hermannstadt/Sibiu im September vergangenen Jahres. Mit dieser Inszenierung ist einmal mehr der Beweis gelungen, worüber vor zwei-drei Jahren skeptisch gelächelt wurde, wenn Theaterdirektor Constantin Chiriac großspurig verkündete, die deutsche Abteilung werde, was die Qualität der Aufführungen angeht, der seit Jahren gelobten rumänischen Abteilung gleichziehen.
Die „Goldberg-Variationen“ beginnen auf der Theaterbühne, deren Bretter Mrs. Mopp scheuert. Mr. Jay (wie Jehova), der egomane und selbstherrlich in Weiß auftretende Spielleiter, kommt zur Generalprobe der Welt-Schöpfung, sein geduldiger, demütiger, in Schwarz gekleideter und Kippa tragender Assistent Goldberg ist schon da. In rascher Folge vermischen sich ab nun die Mrs. Mopp – und später der Schauspielerin und Gelegenheitsliebe Theresa Tormentina – gegenüber manifesten Anzüglichkeiten von Mr. Jay, die Regieanweisungen und die als Stück darzustellenden Bibel-Zitate, dementsprechend laufen vor den Zuschauern Szenen aus dem Privatbereich, dem Theateralltag und den Bibelgeschichten in munterem Dahinplätschern ab. Geprobt werden der Sündenfall, der Kain-und-Abel-Konflikt, die Opferung des Isaak, der Tanz ums Goldene Kalb, die Geschichte von Moses und Aaron und die Kreuzigung, durchsetzt von Peinlichkeiten um Privataffären der Schauspieler und des Spielleiters, Allüren und Wutausbrüchen, Pannen mit der Theatertechnik, Zwist zwischen Spielleiter und Bühnenbildnerin.
Ein Kuddelmuddel aus Theologie und Theater, Biblischem und Weltlichem, Ernsthaftigkeit und Witz, Sarkasmus und Ironie. „Wir wollen glücklich sein, nicht gut“, lautet der Kommentar zu den zehn Geboten. Was als komödiantische Theatergroteske beginnt, entpuppt sich als Metapher auf die Welt, als Versuch, das Verhältnis Gottes zu seinem auserwählten Volk zu beschreiben, aber auch als facettenreiche Darstellung des Vater-Sohn-Konflikts, Taboris großes Thema. Er dringt durch in der von Willkür und Hassliebe geprägten Beziehung zwischen Mr. Jay und Goldberg, in der theologischen Betrachtung jedoch am Schluss in der Kreuzigungsszene. War der Sohn selbst schuld an seinem Leiden, dass er geopfert worden ist? „Warum lässt du den Jungen so leiden?“ sinniert Mr. Jay und gibt als Antwort, Er habe gefragt: „Was macht ein netter jüdischer Junge an einem Kreuz?“ Und Tabori haut noch einen den Holocaust-Opfern gegenüber geäußerten gängigen Vorwurf drauf: „Weil Du zurückgekommen bist, werde ich dich morgen im Ofen verbrennen.“
„Goldberg-Variationen“ ist ein gewagtes Stück. Dass keine Szene und keine Replik verletzend wirkt oder falsch interpretiert werden kann, liegt zum einen am erfahrenen Regisseur Charles Muller. Zum anderen sind die hervorragenden Interpretationen der Hauptrollen den beiden Hermannstädter Ensemble-Mitgliedern Daniel Bucher (Mr. Jay) und Daniel Plier (Goldberg) sowie der Gast-Darstellerin Kristina Birkner zu verdanken. Sie spielt alle drei Frauenrollen – Mrs Mopp, Theresa Tormentina und Bühnenbildnerin Ernestine van Veen – ganz großartig. Dass die in Neumarkt/Tg. Mureş geborene und in München ausgebildete Schauspielerin, die derzeit u. a. in Claus Peymanns Inszenierung von „Kabale und Liebe“ als Lady Milford in Berlin zu sehen ist, an die Hermannstädter Bühne kommen kann, ist der Kooperation mit dem Théâtre Municipal de la Ville d’Esch-sur-Alzette in Luxemburg zu verdanken, in der die „Goldberg-Variationen“ produziert worden sind. In dem, wie gewöhnlich, minimalen aber effektvollen Bühnenbild von Dragoş Buhagiar sind in weiteren Mehrfach-Rollen Ali Deac, Andrei Hansel und Valentin Späth sowie eher als Statisten Johanna Adam, Emöke Boldizsár, Anca Cipariu, Liviu Vlad und Cătălin Neghină zu sehen. Beim Hardrock-Disco-Tanz um das Goldene Kalb spielt Dorin Pitariu live E-Gitarre. Es ist ganz einfach eine Vorstellung, die sich auf jeder Bühne sehen lassen kann.