So wie die meisten Banater Schwaben ihren Heimatort, Dorf oder Gemeinde, in der Banater Heide oder Hecke, hatten, so warenundsind heute noch die Kindheitserinnerungen der Städter oder „Herrischen“, wie diese von den Schwaben vom Lande genannt wurden, mit einem Stadtviertel, mit der Vorstadt, ja oft nur mit einer Gasse verbunden. Und jede kleine Gemeinschaft hatte ihre eigenen Bräuche, Feste, traditionellen Familien-und Taufnamen, eine ähnliche aber doch in vielem eigenartige Stadtmundart und daraus schließend ihre eigenen Erinnerungen.
Ein waschechter Temeswarer, der Vieles von seinen Erinnerungen und den Geschichten seines Stadtviertels niedergeschrieben hat, war Rudolf Krauser. „Meine Kindheitserinnerungen sing eng verflochten mit den Nachbarn“, stellt Krauser in einer seiner Erinnerungsberichten über das alte, das Temeswar seiner Kindheit, fest. “Meine Nachbarn, meine Freunde aus der Kindheit, kann mir niemand ersetzen“. Als ich noch im Kindergarten des Innerstädter Klosters war, erzählt Krauser weiter, und später die Volksschule der Banatia besuchte, wohnte meine Familie in der Elisabethstadt (Meierhöfe), gleich hinter dem Bega-Sanatorium und der Gendarmerie-Kaserne. Es war dies ein deutscher Stadtteil. Meine engsten Freunde und Spielgefährten waren Helmut Götter (sein Vater war ein bekannter Ingenieur), Egon Gassner (der Vater war Publizist und Chefredakteur), Hansi Mager (Schlosserei) Erich und Waldi Mayer (der Vater-Rechtsanwalt) und Emil Lenhardt (der Sohn des bekannten Temeswarer Malers). Ein direkter Nachbar, Hansi Schütt, war schon erwachsen (er fiel im II. Weltkrieg), trotzdem ging ich oft zu den Schütts. Es gab da eine Münzensammlung und zu Briefbeschwerern umgearbeitete Granathülsen auf dem Schreibtisch des Oberleutnants a.D. Schütt. Für mich gab es einen triftigen Grund: Ich war in Liesl verliebt. Sie war damals etwa 20 und ich war für sie so etwas wie eine lebende Puppe, mit der sie gern spielte. Ich war jedoch fest entschlossen, sie einmal, später, zu heiraten.
Daneben gab es noch die sogenannte Türkenhausnachbarschaft: Ich begriff diese Organisation damals nicht. Alle unsere Nachbarn, viele, die ich nicht kannte, gehörten dazu. Der Name leitete sich von einem Haus aus meinem Viertel, das noch aus der Türkenzeit stammte, ab. Einmal hörte ich auch, dass Herr Besinger unser „Nachbarschaftshahn“ wäre. Normal, ich fragte meine Eltern, ob Frau Besinger dann unsere Henne wäre. Das gab ein großes Gelächter. Mein Vater versuchte mich aufzuklären: Es war das kein Hahn sondern ein Hann, die Bezeichnung für den Vorsitzenden dieses Vereins. Der Name wie auch diese Initiative kamen aus Siebenbürgen, wurde gesagt. Es war ein gemeinnütziger Verein für Ausflüge, Unterhaltungsabende, Weihnachtsfeiern und kulturelle Veranstaltungen. Auch wir Kinder wurden dazu mitgenommen. Man sorgte auch immer dafür, dass wir die Erwachsenen in Ruhe ließen. Es gab für uns Kinderspiele, Kasperle-Theater und Ähnliches. Bei einem Ausflug in den Jagdwald bemerkte ich, dass es noch andere Nachbarschaften gab. An den Ständen dieser Nachbarschaften wurden, weil es Sommer war, allerhand Sorten “Gefrorenes“ angeboten. Die Einnahmen kamen der Nachbarschaftshilfe zugute. Meine Eltern waren großzügige Leute. Ich durfte von einem Gefrorenen nach dem anderen kosten. Es war ein unvergessliches Erlebnis. Bedürftige Familien erhielten im Winter aus diesem Hilfsfonds Zuschüsse für Kleider und Winterholz, brave Kinder erhielten Geschenke bei Nikolaus-und Weihnachtsfeiern.
Ich weiß nicht, wann diese Nachbarschaften in der Elisabethstadt aufgelöst wurden.1938 sind wir zu meinen Großeltern in die Fabrikstadt umgezogen. Viel Neues kam da auf mich zu. Bald darauf begann der Krieg. Er hat uns praktisch alles genommen. Allein die Erinnerungen nicht. Zu meinen schönsten gehören heute noch die aus der Türkenhaus-Nachbarschaft.
(Aus „Temeschburg, Temeswar, Timișoara“, HOG Temeschburg 1994)
Balthasar Waitz