Etwa 70.000 Deutsche aus Rumänien – 130.000 aus ganz Osteuropa – wurden im Zuge des Zweiten Weltkrieges zur Zwangsarbeit in russische Arbeitslager deportiert: Junge, arbeitsfähige Menschen – Männer zwischen 17 und 45 Jahren, Frauen von 18 bis 30, Knaben und Mädchen manchmal sogar mit ihren Vätern und Müttern zusammen – wurden in Viehwaggons verfrachtet und mitten im strengen Winter 1945 abtransportiert. Wochen oder gar Monate dauerte die Reise in ein unbekanntes Schicksal. Familien wurden auseinandergerissen, in verschiedene Arbeitslager gebracht. Mit den Lieben, die in der Heimat verblieben waren – den Kindern und Großeltern oder den Männern, die noch an den Fronten kämpften, denn zum Zeitpunkt der Deportation war der Krieg noch nicht zu Ende –, riss jahrelang jeder Kontakt ab.
Fünf Jahre lang, manche auch länger, kämpften die Deportierten gegen Kälte, Hunger und Tod in den Erz- und Kohleminen und Fabriken im Donbass oder im Ural, bis die meisten der Überlebenden 1948/49, einige erst 1950/51, zurück in die Heimat durften. Die anderen etwa 10.000, die Krankheit, Arbeitsunfällen oder dem Hunger zum Opfer gefallen waren, schluckte die russische Erde: nackt, namenlos, würdelos. Bis heute erinnert dort kein Grabstein, keine Gedenktafel an ihr Schicksal – und an den Teil der Geschichte, den es überhaupt erst seit der Revolution von 1989 zu geben begann. Denn mit der Rückkehr in die Heimat war das Leid der Deportierten noch lange nicht beendet. So mancher wurde der Spionage für Russland bezichtigt. Das kommunistische Regime in Rumänien verpflichtete zum lebenslangen Schweigen, selbst den Allernächsten gegenüber. Wer dagegen verstieß, wurde für weitere Jahre ins Gefängnis gesteckt. Hinzu kamen persönliche Dramen: enteignete Häuser, ausgewanderte Familien, einst zurückgebliebene Ehepartner wieder verheiratet, mit neuen Familien, denn viele wussten bis zuletzt nicht, ob die Verschleppten überhaupt noch lebten.
Countdown für „oral history“
70 Jahre sind vergangen seit der Russland-Deportation der Rumäniendeutschen. Und doch reicht das Wissen darüber kaum über den Kreis der Betroffenen hinaus. Das auferlegte Schweigen, und damit das Fehlen einer „oral history“, aber auch die Tatsache, dass man mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung dieses Teils der Geschichte erst zaghaft nach der Revolution begonnen hat, erklärt warum. Noch ist die Chance nicht verloren, noch gibt es Zeitzeugen. 250 ehemalige deportierte Rumäniendeutsche sind heute noch am Leben, schätzt Dr. Klaus Fabritius, Vorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen im Altreich (DFDR), anlässlich der Gedenkfeier „70 Jahre Deportation der ethnischen Deutschen aus Rumänien in die Sowjetunion“, zu der am 31. Januar zusammen mit der Hanns-Seidel-Stiftung ins Bukarester Kulturhaus „Friedrich Schiller“ eingeladen wurde und an der auch zwei Zeitzeuginnen teilnahmen. Sie sind unsere letzte Chance, Fragen zu stellen, authentische Einblicke zu nehmen, ihre Geschichten der Geschichte hinzuzufügen.
Dank ihnen sind mittler-weile einige Bücher und wissenschaftliche Werke entstanden – zuletzt das nun auch durch die Landsmannschaft der Banater Schwaben ins Deutsche übersetzte Werk „Lungul drum spre nicăieri“/„Der weite Weg ins Ungewisse“, in dem sich 41 verschleppte Banater Schwaben zum Alltag in russischen Arbeitslagern äußern (siehe ADZ vom 16.1.2014: „Die unterdrückte Facette des Leids“). Neu hinzu kommen nun zwei Werke, die Carmen Cobliş, Geschäftsführerin des Altreichforums, anlässlich der Veranstaltung vorstellt: In „Erinnerungen/Amintiri“ berichtet Zeitzeugin Dora Dumitru von ihrem fünfjährigen Russlandaufenthalt, gefolgt von 12 Jahren schwerem Kerker in Rumänien. In „Die Volkszugehörigkeit als Schuld“ werden sechs Fälle von Betroffenen aufgerollt, die der Journalist Dan Popa 2002 aufgezeichnet hatte.
Tief bewegt erinnert Cobliş auch an ihren Amtsvorgänger und Mentor, den verstorbenen Leopold Minkiewicz. Obwohl er nach seiner Rückkehr drei Monate im Gefängnis verbrachte und schriftlich verpflichtet wurde, nie aus dieser Zeit zu erzählen, hatte er ihr seine Erinnerungen anvertraut. Gemeinsam hatten sie beschlossen, ein Buch zu schreiben, doch sein Tod hat die Pläne durchkreuzt. „Täglich musste er fünf Kilometer vom Lager zur Fabrik laufen, hin und zurück bei minus 40 Grad. Wieder zuhause, hatte er vergessen, wie man mit der Gabel isst und was ein Pyjama ist. Doch er war ein froher Mensch“, ergänzt sie. Antonia-Maria Gheorghiu, Vorsitzende des Buchenlandforums, wäre selbst beinahe eine Zeitzeugin geworden: Ihre Mutter hatte sie zwei Wochen nach der Rückkehr aus Russland geboren. Aus dem Kreis Suceava waren seinerzeit 409 Leute ausgehoben worden, erzählt sie, fünf davon sind noch am Leben. Die Liste, auf der auch der Name ihrer Mutter steht, befindet sich heute im Bukowina-Institut in Augsburg.
Wie es zu dem Buch „Lungul drum spre nicăieri“ gekommen war, verrät der Forumsvorsitzende des Banater Berglands, Erwin Josef Ţigla aus Reschitza: 2012 kam die Historikerin und Journalistin Lavinia Betea auf ihn zu und bat um Unterstützung bei einem EU-finanzierten Projekt. Ziel war das Buch und ein internationales Symposium zum Thema Deportation. „Im Banater Bergland gibt es noch 68 Zeitzeugen, davon in Reschitza 31“, erklärt Ţigla. Im Rahmen des Projektes entstand auch der Film „Memoria deportării etnicilor germani din România in URSS“ (Erinnerungen der ethnischen Deutschen aus Rumänien an die Deportation in die UdSSR), der im Internet auf „Youtube“ zu sehen ist.
Dunkle Vorahnungen
Schon im Herbst 1944 kursierten Gerüchte über eine mögliche Deportation der ethnischen deutschen Minderheit, verrät Fabritius weiter. Die Regierung fühlte sich bemüßigt, diese im kommunistischen Blatt „Scânteia“ vom 18. Januar „richtigzustellen“: Für eine Mobilisierung der Deutschen an „Orte, wo Arbeitskräfte nötig seien“ – von Russland war mit keinem Wort die Rede – kämen ausschließlich Männer zwischen 16 und 45 und Frauen zwischen 18 und 30 Jahren in Betracht. Man werde die Familien von diesen Orten umgehend in Kenntnis setzen, sodass Korrespondenz stattfinden und Pakete geschickt werden könnten. Eine glatte Lüge! Zum Zeitpunkt war die Deportation bereits in vollem Gange. Eine Zeitzeugin erinnert sich, man hätte ihr drei Wochen Arbeitseinsatz im eigenen Land vorgegaukelt.
Die aus Buşteni stammende Dora Dumitru schreibt in ihren „Erinnerungen“: „Anfang Januar 1945 begannen die ersten Aushebungen in Kronstadt. Meine Familie versuchte, mir ein trauriges Schicksal zu ersparen, und brachte mich zu Verwandten nach Agnetheln.“ Als auch dort die ersten Aushebungen begannen, wurde die junge Frau in einem Heuwagen versteckt nach Großschenk/Cincu geschmuggelt, wo sie sich im Haus einer Tante im Keller verbarg, den sie nur nachts zu verlassen wagte. Bis ihre Eltern traurig mitteilten, man habe an ihrer Stelle eine Kusine, Mutter zweier Kinder, mitgenommen, die nur entlassen würde, wenn sie sich im Gegenzug stellte. „Selbstverständlich gab es keine andere Lösung – ich musste mich melden.“
Im Vorfeld der Deportation
Ungewiss war für die Deportierten nicht nur der Zielort, sondern auch die Frage, ob überhaupt eine Rückkehr geplant war. „Es gab keinen Hinweis auf die Dauer der Deportation“, erklärt Daniel Seiberling, Direktor der Hanns-Seidel-Stiftung für Rumänien und Moldau, in seinem Vortrag. Er zitiert Dokumente, aus denen auch hervorging, Stalin hätte den Deportierten Gepäck über 200 Kilogramm, Arbeitsausrüstung, Verpflegung und Unterkunft nach den Normen der Kohle- und Stahlindustrie der UdSSR zugesagt. Wie das Gepäck zu transportieren sei, war nicht festgelegt. Der Historiker Dr. Alexandru-Murad Mironov berichtet von Listen der zu Deportierenden, die bereits im Herbst 1944 auf russisches Bestreben angelegt worden waren. Am 13. Januar hatte Premierminister Rădescu noch eine Protestnote an Russland gerichtet, doch da hatte die Deportation schon begonnen. Aus humanitären Gründen hätte man zumindest die Frauen, am Kriegsgeschehen unbeteiligt, verschonen müssen. Zudem waren in den Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Russland und Rumänien 1944 die ethnischen Deutschen kein Thema gewesen.
Späte Erinnerungskultur
Im Januar 1990, berichtet Ţigla von seinen Bemühungen in Reschitza, hatte er erstmals zur Errichtung eines Denkmals für die Deportierten aufgerufen und hierfür Spenden gesammelt. Am 14. Oktober 1995 wurde das Monument im Beisein der Bischöfe D. Dr. Christoph Klein (Evangelische Kirche A.B. in Rumänien) und Sebastian Kräuter (römisch-katholisches Bistum Temeswar) enthüllt. Zu diesem Anlass wurde ein Buch mit dem Titel „Ich weiß, dass du mein Vater bist, aber ich kenne dich nicht“ herausgegeben. Es folgten weitere Gedenkveranstaltungen: 1995 in Kronstadt/Braşov, 2000 in Temeswar/Timişoara, 2005 in Reschitza, 2010 in Sathmar/Satu Mare. Im Januar 2015 hatte auch in Ulm (Deutschland) eine zentrale Gedenkveranstaltung stattgefunden, der neben Bischof Reinhart Guib (Evangelische Kirche A.B. in Rumänien) über 300 Teilnehmer beiwohnten, davon 26 Zeitzeugen. Im selben Monat gab es eine Gedenkveranstaltung in Temeswar, es folgten weitere in Sathmar, Kronstadt, Reschitza, sowie eine in Hermannstadt, an der auch Staatspräsident Klaus Johannis teilgenommen hatte.
In Zukunft sollen sich Gedenken und Aufarbeitung nicht auf Rumänien und Deutschland beschränken, lässt der Bukarester Stadtpfarrer Dr. Daniel Zikeli wissen. Die Evangelische Kirche A.B. stünde derzeit mit den Kirchen in Russland und der Ukraine in Verhandlung, um Denkmäler an allen Orten der Deportation zu errichten und dort jährlich gemeinsame Gedenkfeiern abzuhalten. So findet auch das beinahe in Vergessenheit geratene Schicksal der deportierten Rumäniendeutschen seinen Platz im globalen Gewissen. Den Betroffenen nützt es nicht mehr. Doch ihr Leid erhält eine Stimme: So etwas darf nie wieder geschehen!