Heimat ist ein fester Ort, würden die meisten wohl behaupten. Der Ort der Kindheit, des Elternhauses, vielleicht sogar der Geburtsort. Ein Ort, an den sich Traditionen knüpfen. Mit dem man sich identifiziert. Oder aber, wie schon die Römer sagten, „ubi bene ibi patria“ - ein Ort, an dem es einem gut geht. Gut geht es den Ukrainern aus der Maramuresch und der Bukowina, die heute in Remetea Mică leben, im ehemaligen Schwabendorf Königshof.
Viele, die in den zurückgelassenen Schwabenhäusern wohnen, erinnern sich dankbar an jene, die fortgegangen sind. Und freuen sich, wenn die Schwaben zum Kirchweihfest zurückkehren. Dann wird oft gemeinsam gefeiert! Für die einen ist es die neue, für die anderen die alte Heimat. Kann man zwei Heimaten haben? Oder gar mehrere? Für die Ukrainer in Remetea Mică ist nicht nur die Maramuresch oder die Bukowina ihrer Kindheit eine alte Heimat, sondern auch das Mutterland ihrer Vorfahren, ihrer Kirche, ihrer Sprache, die Ukraine. Freilich für den Einzelnen oft nicht mehr persönlich verortbar, dafür im Herzen verankert. Dort lebt sie weiter in Traditionen und Bräuchen…
„Wir sind ein multiethnisches, buntes Banat!“
Salz und Brot. Mit Salz und einem knupsrigen, geflochtenen Brotring werden wir vor dem Sitz des Vereins der Ukrainer in Remetea Mică empfangen. An einem Arbeitstag - es war nicht leicht, jemanden zu finden, der sich losreißen konnte, um unsere Delegation zu begrüßen, entschuldigt sich Iura Hleba, Präsident der Filiale Temesch der Vereinigung der Ukrainer in Rumänien. Remetea Mică ist eine der Stationen der vom Departement für Interethnische Beziehungen an der Rumänischen Regierung (DRI) organisierten Journalistenreise ins Banat, auf der Suche nach dem touristischen Potenzial der nationalen Minderheiten. Lächelnd stehen sie nun vor uns, manche in Trachtenhemd oder Ie-Blusen, manche formell im Anzug: der Pfarrer, der Bürgermeister, die Musiklehrerin, der Akkordeon- und der Panflötenspieler, die Frau, die von ihrer Umsiedlung aus der Maramuresch in den 1970er Jahren erzählt, mit einem Eisenbahnwaggon seien sie zusammen mit zwei weiteren Familien gekommen... Sie bitten uns an lange Tische, zu Salz und Brot gesellt sich Schnaps und Wein, ukrainische Gastfreundschaft lässt den nüchternen Raum schnell in den Hintergrund treten.
Zuerst einmal staunen wir: Die ukrainische Minderheit in Remetea Mic² ist keineswegs alteingesessen, viele können sich noch an eine Kindheit in der Maramuresch erinnern. Zwar kamen die ersten Ukrainer von dort 1906 ins Banat - „sie hatten viele Kinder und konnten sie nicht mehr ernähren“, erklärt Hleba - wo sie als erfahrene Holzfäller Arbeit im Wald fanden. Die zweite Welle kam nach dem Zweiten Weltkrieg: Bauern, angelockt vom fruchtbareren Ackerland. Die dritte Siedlerflut erreichte das Banat nach der Wende, neben jenen aus der Maramuresch kamen auch viele aus der Bukowina. Sie füllten gezielt die Lücken, die die abwandernde deutsche Minderheit gerissen hatte. „In [tiuca, einem Dorf mit 1200 Rauchfängen, gab es nur noch drei-vier deutsche Familien, der Rest alles Ukrainer“, erinnert sich Hleba. „Die Schwaben hatten sich in Deutschland gut eingelebt, sie kamen nur noch zum Kirchweihfest einmal im Jahr am 15. August, dann feierten wir zusammen.“ Auch mit den anderen Ethnien - „Serben, Ungarn, Rumänen, Zigeuner“, zählt er auf – lebte man stets gut zusammen. „Als Kinder haben wir alle miteinander gespielt und alle Sprachen durcheinander gesprochen. Unsere Eltern lehrten uns, in allen Sprachen zu grüßen und wenn wir an Weihnachten mit dem kleinen Pflug durchs Dorf liefen, sagten wir unsere Sprüchlein vor jedem Haus in der Sprache des Bewohners auf.“ Er lacht: „Wir sind ein multiethnisches, buntes Banat!“
Alle Heimaten an einem Ort
Heute gibt es im Kreis Temesch 5652 Ukrainer. In Remetea Mic² leben 240, in der Muttergemeinde Ma{loc, früher Blumenthal, weitere 60, die meisten sind erst in den 1990er Jahren zugezogen. „Wir stammen hier alle von den Huzulen ab“, erklärt Hleba. Neben diesen zählen die Ruthenen und die Haholi in der Dobrudscha zur ukrainischen Minderheit Rumäniens. Ihre Sprache aus der ursprünglichen Heimat pflegen sie nicht nur zuhause. Als Hleba 2000 sein Amt antrat, setzte er sich zuerst für die Gründung von Kindergärten und Schulen mit Unterricht in der Muttersprache in den Klassen 1-8 in den Dörfern mit ukrainischer Minderheit ein: „Știuca, Dragomirești, Pietroasa Mare, Remetea Mică, Bârna-Pogănești, Soca, Variaș und Lugosch, dort gibt es sogar ein Gymnasium.“
Auch für den Bau von drei eigenen orthodoxen Kirchen in Temesch hatte er sich stark gemacht. In Remetea Mică liegt die Kirche auf der anderen Straßenseite unweit vom Sitz des Vereins. Sie ist der Auferstehung Christi sowie dem Heiligen Lukas von der Krim geweiht. Seit 2014 erklingen dort am Sonntag wieder Lieder in der Muttersprache und - Kirchenslawisch. „Eine zeitlang nutzten wir die verlassene katholische Schwabenkirche“, erzählt Pfarrer Adrian Vișovan, „ nur schwer bekamen wir die Erlaubnis.“ Zuvor wurde der Gottesdienst im Haus des Pfarrers improvisiert. „Dann gab uns die Gemeinde Land für eine eigene Kirche.“ Sieben Jahre, von 2008 bis 2014, dauerte der Bau. Unverkennbar sind die strahlend bunten Ikonenwände, das irisierende Blau, typisch für die altgläubigen Orthodoxen. Unverkennbar auch ein Gruß, den es nur bei den Ukrainern gibt, leider wird er heute nur noch selten praktiziert, bedauert der Pfarrer: „Gelobt sei Jesus“ grüßt man und bekommt zur Antwort „Gelobt in alle Ewigkeit Amen“.
Mit den ca. 800 in Remetea Mică lebenden Rumänen – es gibt sie dort seit dem 19. Jh., doch die meisten sind nach der Wende zugezogen, bis dahin war Königshof ein zu 90 Prozent schwäbisches Dorf – gab es keine Probleme. „Die Rumänen kommen immer gern zu unseren Festen“, freut sich Iura Hleba. Besonders stolz ist man auf das „Internationale Festival der Ukrainer“, das jedes Jahr an die 400 Besucher anzieht. Dann dürfen sie allen ihre Traditionen vorführen: Tänze, Lieder, Gedichte, eine Trachtenparade. An diesem Tag verschmelzen alle ihre Heimaten an einem Ort!
Nicolae Hrins „neue Traditionen“
Ist Heimat wirklich ein Ort? Oder vielmehr ein Karussell der Gefühle? Ein Wechsel von Festhalten und Loslassen, von Wurzeln schlagen und neue Blüten treiben? Ein Selbstfindungsprozess im Strudel von Entscheidungen und Lebenswegen? Nicolae Hrin kann davon ein Lied singen - oder vielmehr spielen. Zusammen mit Frau und Tochter steht der Panflötist nicht nur am ukrainischen Festival in Remetea Mică im Mittelpunkt. Längst vertritt das „Trio Hrin“ - die Mutter singt, die Tochter spielt Geige – die ukrainische Minderheit auf Volksfesten überall im Banat. Dabei, gesteht Nicolae, sei die Panflöte gar kein traditionelles Instrument der Ukrainer. Schmunzelnd verrät er, wie er dennoch dazu kam: „Ana, meine Frau, ist Musiklehrerin. Sie war ständig mit dem Chor unterwegs - und ich musste alleine zu Hause bleiben.“ Damit er mitfahren durfte, beschloss er, sich selbst ein Instrument beizubringen. Eine Panflöte in der Auslage eines Musikladens hatte es ihm angetan. Später studierte er Panflöte an der Volkskunstschule in Temeswar/Timișoara. „Da musste ich mir viel falsch Angelerntes wieder abgewöhnen“, stöhnt Nicolae lachend. „Wie man richtig bläst und atmet, ja sogar die Haltung. Wenn man auf Festivals geht, muss man es richtig machen – dort gibt es eine Jury, die Punkte dafür vergibt!“
Nicolae gibt eine Kostprobe zum Besten, begleitet von seiner Frau und einem Akkordeonspieler. Von tieftraurigen rumänischen Volksliedern wie Maria Tănases „Cine iubește și lasă“ über beschwingte Stücke und natürlich traditionelle ukrainische Weisen verfügt er über ein breites Repertoire. Längst ist Panflöte Tradition im Hause Hrin geworden - und in Remetea Mică. Durch die Auftritte des Trios wird sie überall mit der ukrainischen Minderheit in Verbindung gebracht. Nicolae hat eine neue Tradition erschaffen! Aber: Gibt es sowas überhaupt? Andererseits: Waren nicht alle althergebrachten Traditionen irgendwann einmal neu?
Panflöte spielen ist nicht die einzige Kunst, mit der der Eisenbahnangestellte brillieren kann. Als Hobby baut er auch Panflöten - doch nicht wie üblich aus Holz oder Bambus, sondern aus Bronze und Messing! Gestimmt werden sie mit einer Methode, die er sich selbst ausgedacht hat: „Ich drücke Wachs in die metallenen Röhren und entferne dann wieder ein wenig, solange, bis der Ton stimmt.“
Im Ringelspiel der Geschichte
Königshof wurde 1773 gegründet, von österreichischen Beamten auf dem Reißbrett entworfen, als neue Heimat für die zweite Einwanderungswelle deutscher Siedler. Vorher hatte es an diesem Ort ein mittelalterliches Dorf namens Remethe gegeben. Auf dessen Ruinen - die Osmanen hatten es zerstört - entstanden Königshof und Greifenthal. 1783 wurde die Bevölkerung von Greifenthal nach Königshof umgesiedelt.
1922 brachte der Staat „65 Rumänen, 17 Deutsche, zwei Ungarn und einen Serben“ nach Alioș, wie Königshof Teil der Gemeinde Blumenthal, und wies diesen Land zu. 1970 wurden Ukrainer aus der Maramuresch als Forstarbeiter herbeigeholt. In den 1990ern wandern die letzten Schwaben aus, kurzzeitig bilden die Ukrainer die Mehrheit. Heute sind es wieder die Rumänen, die ukrainische Minderheit stellt etwa 33 Prozent der Bevölkerung.
Heimat ist ein fester Ort, würden die meisten wohl unterstreichen. Doch wie fest sind überhaupt Orte? Remethe - Königshof -Remetea Mică - für die einen alte, für die anderen neue Heimat - zeigt sich vielmehr als turbulentes Heimatkarussell. Und wie fest sind Länder? Verschieben sich nach dem Krieg ihre Grenzen, gebären sie auf beiden Seiten neue Minderheiten. Nichts ist fest, Heimat dreht sich im historischen Ringelspiel mit. Halt gibt nur die Erkenntnis, wer man war, wer man ist - und wer man sein will. Alte und „neue“ Traditionen.