Lukas 19, 41-48
Jesus zieht nach Jerusalem, in die „Friedensstadt“ ein. Am Ölberg erwartet ihn eine große Menschenmenge, die ihm einen stürmischen Empfang bereitet und ihm zujubelt: „Hosianna, gelobt sei, der da kommt ...“.
Jesus sieht die Stadt lebendig und pulsieren – und er weint über sie. Denn vor seinen Augen steht nicht Festfreude, sondern Trümmer, Feuer und Tod: „Es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen, und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen ...“.
Das Schicksal der Stadt Jerusalem, von dem Jesus hier berichtet, hat sich am 10. August im Jahr 70 n. Chr. erfüllt. An diesem Tag ging der Tempel in Jerusalem in Flammen auf und die Römer plünderten und zerstörten ganz Jerusalem. Der General der römischen Legionen, der Kaisersohn Titus, sah sich noch einmal die strahlende Pracht des Tempels an, bevor alles in einem Flammenmeer versank. Die römische Weltmacht vernichtete das kleine Volk der Juden, das sich durch innere Parteikämpfe zerfleischte, und setzte der nationalen Existenz ein vorläufiges Ende. So lesen wir es in den Geschichtsbüchern.
Der Glaube aber bleibt nicht bei dieser Erklärung. Er sieht mehr. Denn die Stadt Jerusalem, über die Jesus weint, ist keine Stadt wie andere Städte. Und das Volk Israel ist erst recht nicht ein Volk wie andere Völker. Um Israel ist ein großes Geheimnis – das Geheimnis seiner Erwählung. Israel ist von Gott erwählt und bleibt erwählt auch dort, wo es wie kein anderes Volk durch Schrecken, Leid und Tod gegangen ist. Aber Israel lebt, weil Gott lebt!
Gott hat dieses Volk schon seit den Tagen der Väter Abraham und Jakob zu seinem Volk erwählt. Und als Jesus kam und rufend, heilend und segnend durch das Land zog, da rief Gott noch einmal eindringlich dieses Volk auf den Weg des Heils. Aber diesen Liebesruf Gottes hat das Volk nicht erkannt und nicht angenommen. Und so ging die Geschichte dieses Volkes seinem vorläufigen Ende entgegen.
Mit seiner Verwerfung beginnt unser Heil. Gott erwählte sich aus allen Völkern und Nationen ein neues Volk. Die Boten Gottes zogen über die Grenzen Israels hinaus und brachten den Heiden die Botschaft Gottes vom Heil in Jesus Christus. Der Apostel Paulus hat das erkannt und bedacht: „Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, solange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist“. Nun wird die neue Gemeinde zum Ort der Heimsuchung Gottes. Wir verstehen Heimsuchung meistens in strafendem Sinn. Wir reden dann von Menschen und Ländern, die von Krieg, Seuchen oder Erdbeben heimgesucht wurden. Aber hier bedeutet „Heimsuchung“ die segensreiche Nähe Jesu. In ihm können wir nun erkennen, was zu unserem Heil und zu unserem Frieden dient. Israel hat das nicht erkannt. Jerusalem hatte seinen Tempel, seine Gottesdienste und Opfer, seine Hoffnung auf den Messias. Aber bei all dem fehlte ihm die Erkenntnis dessen, was Gott gerade jetzt durch Jesus von Nazareth ihm antat.
Was sie an Jesus interessierte, war nur die Frage, inwieweit sie ihn für ihre Zwecke brauchen konnten. Als Jesus sich aber nicht als der erwartete König erwies, da verwarfen sie ihn und ließen ihn kreuzigen.
Die Juden waren sich in ihrer Frömmigkeit sicher. Sie waren sich ihres Gottes sicher. Aber das war eine falsche und gefährliche Sicherheit. Darum sagt Jesus: „Ihr habt den Tempel zu einer Räuberhöhle gemacht!“
Was Lukas nun hier berichtet, spielt sich im Vorhof des Tempels ab. Da saßen die Geldwechsler, die Viehhändler, die ihre Tiere verkauften. Nun kommt Jesus und stößt ihre Tische um und wirft sie alle hinaus. Was will Jesus eigentlich?
Ihm geht es um Gott und es geht ihm um den Menschen, um sein Heil. Jesus stellt die Feste und Feiern in Frage und nimmt alle Konsequenzen auf sich. Da kommen Menschen zum Gottesdienst, sie beten und loben Gott und opfern. Aber für die Wirklichkeit Gottes bleibt kein Platz mehr. Die Menschen singen und beten, sie hören das Wort Gottes – aber sie spüren nicht die Veränderung, die das Wort Gottes in uns hervorrufen will.
Lukas schreibt: „Er lehrte täglich im Tempel“. Jesus gibt die Menschen nicht auf. Er geht täglich in den Tempel, predigt, ruft und sucht die Menschen.
Auch wir kommen zum Gottesdienst. Wir singen und beten und hören Gottes Wort. Aber versperrt nicht unsere Gleichgültigkeit ihm den Weg zu unseren Herzen? Jesus geht es um uns und unser Heil. Darum geht er auch uns nach und ruft uns. Seine Liebe will uns retten.