In der Bukarester Lipova-Straße, nahe des Nordbahnhofs, hört man schon von weitem die freudigen Kinderstimmen, die einen noch freudiger in Empfang nehmen. Schon beim Eintreten in die Räumlichkeiten der Nichtregierungsorganisation (NGO) „Edulier“ fühlt man sich auf Anhieb wohl. Bis vor einem Jahr war die Gemeinde der Legastheniker in Rumänien benachteiligt, größtenteils mangels monetärer Mittel und unzureichender Information. Cristiana Ionescu, die Gründerin von „Edulier“, hat diese Lücke erkannt und setzt sich mit ihrem Team seither erfolgreich für Bildung und individuelle Förderung der Kinder mit Lernschwierigkeiten ein. Die Idee von Edulier wurde jedoch schon früher geboren und hat ihre Wurzeln nicht in Bukarest, sondern in der etwa 30 Kilometer entfernten Kleinstadt Corbeanca. „Hier entdeckten wir, dass viele Kinder Lernschwierigkeiten haben und begannen, den Garten meines Großvaters für verschiedene Veranstaltungen und Projekte zu nutzen. Der Freiwilligenarbeit schlossen sich meine Familie, Freunde und Bekannte an. Sobald die Idee und das Konzept feststanden, eröffneten wir das Lernzentrum innerhalb von drei Monaten“, erzählt Ionescu stolz. Heute, ein Jahr später, umfasst das Lernzentrum drei liebevoll gestaltete Räume, die zum Wohlfühlen und Verweilen einladen und mit vielen selbstbewussten und glücklich wirkenden Kindern gefüllt sind. Das Spielzimmer ist, wie der Name schon vermuten lässt, ein wahres Paradies voller Stofftiere, bunter Zeichnungen und kistenweise Spielzeug. Gleich nebenan befindet sich das Therapiezimmer, wo sowohl Einzel- als auch Gruppensprechstunden stattfinden. Hier setzen sich die Eltern des jeweiligen Kindes mit den Spezialisten zusammen und evaluieren einen individuellen Plan.
Zu den diagnostizierten Lernschwierigkeiten zählen Dyslexie (Leseschwäche), Dyskalkulie (Rechenschwäche) und Dysgrafie (Schreibschwäche). „Natürlich ist die Elternebene besonders wichtig für den Erfolg der Therapie. Es gibt immer Eltern, die weniger einsichtig und umgänglich sind als andere. Aber es ist schon ein Schritt in die richtige Richtung und zeigt Engagement und Mühe, wenn sie die typischen Zeichen bei ihrem Kind erkennen und sich bei uns beraten lassen“, bestätigt Mirela Nitu, eine von sechs Betreuerinnen bei Edulier. Nitu wandte sich selbst vor einem Jahr an Edulier, da ihr bei ihrem Sohn Lernschwierigkeiten aufgefallen waren. Im dritten Raum, der von der Telekom gesponsert wurde, befindet sich ein Whiteboard. Hier wird digital und interaktiv gelernt: Schreiben, Lesen, Lernen oder Rechnen – alles passiert auf eine spielerische Art und Weise in diesem Raum. Die Kinder, die Edulier betreut, sind vom Alter her sehr gemischt. Derzeit betreut die NGO Kinder zwischen 4 und 14 Jahren. Eine besonders schöne und zugleich erfolgreiche Therapieform ist die Hundetherapie. Ein bis zwei Mal pro Woche bekommt das Lernzentrum nämlich pelzigen Besuch von speziell ausgebildeten Therapiehunden.
Die Therapie sieht dann so aus, dass beispielsweise ein Hund sich auf den Schoß eines Kindes legt und das Kind ihm eine Geschichte vorlesen muss. Dabei soll das Kind ein größeres Wohlbefinden beim lauten Vorlesen verspüren. Die Hunde machen sich, anders als eventuell Klassenkameraden, nämlich weder über die Kinder lustig noch verurteilen sie sie oder zweifeln an deren Intelligenz. Denn auch wenn Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwäche ebenso intelligent wie alle anderen sind, werden sie leider häufig Opfer von Spott. „Wir haben in dem Jahr unseres Bestehens gemerkt, was für eine unglaublich positive Wirkung die Tiere auf die Kinder haben. Diese Art von Therapie dient der Verbesserung der sozialen Beziehungen, der Senkung des Stressniveaus, der Förderung der Geduld sowie dem emotionalen Gleichgewicht. Der Umgang mit Tieren kann den Lernerfolg um bis zu 65 Prozent steigern“, erklärt Cristiana Ionescu. Neben der Hundetherapie wird auch die Kunst- und Musiktherapie angewandt. Wichtig für den Erfolg der Therapie sei es, dass drei Komponenten eng zusammenarbeiten und sich über die Entwicklung des Kindes austauschen: Lehrer, Eltern und die Spezialisten von Edulier. In Zukunft möchte Edulier daher auch Workshops für Lehrer anbieten, um sie für Kinder mit Legasthenie zu sensibilisieren.
„Eine frühe Diagnose und ein Interventionsplan, auch seitens der rumänischen Schulen, würden einen enormen Unterschied machen und dazu beitragen, dass ein Kind harmonisch aufwachsen kann und reale Entwicklungschancen im Vergleich zu einem Kind ohne Lernschwäche hat“, so Ionescu. Studien belegen, dass in Europa 5 bis 12 Prozent der Kinder von Legasthenie betroffen sind. Obwohl die meisten Länder dies als einen Punkt auf der Agenda von hoher Wichtigkeit betrachten, passiert auch in den rumänischen Bildungsministerien in der Praxis nicht viel. Edulier hat sich des Themas erfolgreich angenommen, freut sich auf viele weitere Jahre mit den Kindern und schmiedet Pläne für die Zukunft: „Unsere Räumlichkeiten reichen allmählich nicht mehr aus. Dafür müssen wir in naher Zukunft eine Lösung finden. Ansonsten wollen wir unsere Zusammenarbeit mit Spezialisten und Therapeuten weiter ausbauen und von anderen auf internationalen Konferenzen wie in Liverpool oder Amsterdam lernen. Für die Kinder wollen wir weiterhin ein Ort bleiben, wo sie gerne hingehen. Es geht nicht immer nur ums Lernen, sondern auch darum, selbstbewusster und ausgeglichener zu werden. Es geht darum, den eigenen Wert zu erkennen, alltägliche Dinge wie kochen und spielen zu integrieren und sich auf neue Dinge einzulassen. Nur, wenn das geschieht, können wir weiterhin so eine tolle Entwicklung bei den Kleinen beobachten“, sagt Ionescu abschließend.