Samstag, der 17. Oktober. Endlich ist es so weit. Heute Abend, um 19 Uhr, das Konzert des Jahres in Temeswar, in der Banatul-Staatsphilharmonie, so die Veranstalter des 4. Barockfestivals, in dem das Event anberaumt ist. Das Konzert findet zugleich innerhalb der Festtage der Spanischen Kultur, vom Verein „Via Rumania Cultura“ organisiert, statt. Den großen Meister alter Musik, einen der besten Gambisten weltweit, will ich interviewen. Sein Beitrag zu Alain Corneaus Film „Tout le Matin du Monde“ (Die siebente Saite, 1991) gewann einen César für die beste Filmmusik. 140 Konzerte pro Jahr, über 174 Aufnahmen – sechs Aufnahmen pro Jahr – und sein eigenes, 1998 gemeinsam mit seiner Frau, der Sopranistin Montserrat Figueras, gegründetes Label „Alia Vox“. Schon früher, 1989, hat er mit Montserrat Figueras das Ensemble „Hespèrion XX“ (heute: „Hespèrion XXI“), La Capella Reial de Catalunya (1987) und Le Concert de Nation (1989) ins Leben gerufen. Das Konzert in Temeswar ist Teil seiner derzeit laufenden internationalen Tournee, innerhalb der er auf berühmten Bühnen in London, Versailles, Rotterdam, Buenos Aires, Rio de Janerio, Istanbul auftritt.
Im letzten Augenblick erfahre ich: Um 16 Uhr, drei Stunden vor dem Konzert, ist eine Pressekonferenz im Foyer der Staatsphilharmonie geplant. Zur Sicherheit rufe ich nochmals den Festivalleiter an, der sich gerade auf dem Weg zum Temeswarer Flughafen befindet, um den großen Meister abzuholen. Um 15 Uhr landet sein Flug. Gestern ein Konzert, heute eins in Temeswar und morgen das nächste. Ein persönliches Interview sei ausgeschlossen, auch nicht nach dem Konzert. Zeitmangel. Morgen früh, um 6 Uhr, fliegt er wieder ab. Nur einem einzigen Journalisten wurde ein Interview gewährt, er habe sich schon vor zwei Wochen angemeldet. Ich doch auch!
15 Minuten vor 16 Uhr stehe ich im Foyer, im Obergeschoss der Staatsphilharmonie. Alles ist für die Pressekonferenz vorbereitet. 15-20 Stühle auf zwei Reihen im Halbkreis aufgestellt, ein paar Meter von den Sesseln, wo der spanische Gambist und Musikwissenschaftler, Jordi Savall, der Festivalveranstalter Marius Gaiţă, der spanische Honorarkonsul in Temeswar und Leiter von „Via Rumania Cultura“, José Miguel Viñals, und der Manager des Musikers, David Gallan, sitzen werden. Zwei Jahre lang habe sich José Miguel Viñals bemüht, den Meister alter Musik nach Temeswar zu bringen, sollte ich später erfahren. Der internationale Star hat vollen Terminkalender, erst jetzt hat es geklappt, so der spanische Honorarkonsul.
Mehrere Philharmonie-Mitarbeiter als Journalisten. 16.15 Uhr. 16.30. Die Zeit vergeht rasch. Es wird herumtelefoniert. Die Pressekonferenz, eine Stunde später angesetzt. Der Festivalveranstalter verärgert. Nach einer Stunde nur noch vier Journalisten. Ein wütender Festivalleiter sagt die Pressekonferenz im Foyer ab. Alles wird in den für die Künstler gedachten Raum in der Nähe des Capitol-Saals verlegt. Der Journalist, der auch filmen wird, bekommt das versprochene Interview. Wir warten weiter. Im Raum ein Klavier, darauf Plakate mit Savall, die er nach dem Konzert unterzeichnen wird, bequeme Sessel wie im Foyer, auf dem Tisch davor schlichte elegante Blumenarrangements mit weißen Rosen, Stühle mit Rückenlehnen, wie der Hals eines Saiteninstruments, eine Theke trennt die Lounge von einem Büro und einer Toilette. Es herrscht Hektik. Leute gehen ein und aus. Die Musiker sind angekommen, die Instrumente ebenso, die Bühnenkleidung fehlt aber. Ob das Konzert stattfindet, steht nun in Frage. Das Warten dauert. Es ist fast 18 Uhr. Die Bühnenkleidung ist da. Dem Konzert steht nun nichts mehr im Wege. Der Manager trägt die Koffer der Musiker herein. Mit dem Rücken der Tür zugewandt, unterhalte ich mich gerade mit einer Philharmonie-Mitarbeiterin. „ER ist da“, höre ich plötzlich hinter mir. Ich drehe mich um.
Keine hohe, aber elegante Gestalt, komplett schwarz gekleidet, knielanger Anzug und schwarzes Hemd. Das einzige Farbstück - ein Accessoire, ein roter Schal. Ein bescheidenes Auftreten. Grau meliertes, leicht gewelltes Haar, ein gepflegter, kurzer, grauer Bart. Ein warmes Lächeln um die braunen Augen herum. Der Meister wird der Radiojournalistin vorgestellt, sie will ihn nur persönlich kennenlernen und sich für das bereits telefonisch geführte Interview bedanken. Der ältere Journalist, der nicht Englisch spricht, ist nicht mehr da, also bin ich die Einzige, die sich ein Interview wünscht. Plötzlich meldet sich noch jemand. Ich darf trotzdem beginnen. Der Meister, der sich gerade hingesetzt hat, steht höflich auf. Ich stelle mich auf Englisch vor. Ein warmer, leichter Händedruck und überraschenderweise höre ich eine sachte, melodische Stimme: „Aber wir können auch Deutsch sprechen.“ Wir setzen uns. Mein Warten und die Ausdauer werden belohnt. Ich bekomme das heiß ersehnte Interview. Etwa neun Minuten lang, dann werde ich von der irritierten Stimme der ehemaligen Journalistin, jetzt Philharmonie-Mitarbeiterin, die den Star auch befragen möchte, unterbrochen. Schon ein paar Minuten nach 18 Uhr. Die Zeit wird knapp. Der spanische Gambist muss bald auf die Bühne treten, die Musikinstrumente müssen noch gestimmt werden. Jordi Savall (Viola da Gamba, Leitung) tritt gleich mit dem Ensemble „Hespèrion XXI“ in folgender Besetzung auf: Andrew Lawrence-King (Barockharfe), Rolf Lislevand (Gitarre und Theorbe) und David Mayoral (Schlagzeug).
Ihre Frau war, Ihre Kinder sind Musiker.Stammen Sie ursprünglich aus einer Musikerfamilie?
Meine Mutter sang sehr gut, mein Vater sang sehr falsch, aber es war eine Familie, wo man die Musik liebte. Sicher hat mir meine Mutter viele Wiegenlieder gesungen, aber es war keine Musikerfamilie. Es war nach dem Krieg, nach dem Bürgerkrieg in Spanien, als ich geboren wurde (Anm.d.Red.: 1941), es war eine sehr schwierige Zeit, wir hatten kein Klavier im Hause, keine Musikinstrumente, außer einer Gitarre....
Wieso haben Sie sich entschlossen, Musiker zu werden?
Weil in der Schule, einer religiösen Schule, das erste, das wir machten, um 9 Uhr in die Messe zu gehen, war. Da habe ich das kleine Gesangsensemble gehört, das hat mich fasziniert. Da habe ich mich gemeldet und dort habe ich eigentlich Musik gelernt, singen gelernt.
In welchem Alter haben Sie begonnen, zu spielen?
Mit sechs Jahren habe ich angefangen, im Kirchenchor und in der Schule zu singen und als sich meine Stimme geändert hat, habe ich ein paar Jahre später, mit 15, wieder begonnen, Cello zu spielen und nach neun Jahren habe ich angefangen, Gambe, Viola da Gamba, zu spielen.
Wieso haben Sie sich für die Viola da Gamba entschieden?
Weil ich mit dem Cello viel Barockmusik gespielt habe und da waren auch Arrangements für die Gambenmusik, von der Schott-Cello-Bibliothek. Da habe ich am Ende die Idee gehabt, eine Viola da Gamba zu suchen und habe dann eine Gruppe in Barcelona gefunden, die alte Musik machte. Die hat mir eine Gambe angeboten und so habe ich angefangen.
Welches sind Ihre Lieblingskomponisten?
Die besten, interessantesten Komponisten für die Gambe, würde ich sagen, sind Marin Marais, Couperin, Bach, Monsieur de Sainte-Colombe und dann die englischen Komponisten. Es gibt viele. Und von den früheren Zeiten: Carl Friedrich Abel, Carl Philipp Emanuel Bach. Und die Komponisten, die ich im Allgemeinen mag, sind auch viele, ich meine (darunter) natürlich Bach, Händel, Monteverdi, Charpentier usw.
Und Ihre Lieblingsstücke?
Es sind auch viele, von jedem Komponisten habe ich Lieblingsstücke. Das ist sehr schwer zu sagen: die Marienvesper von Monteverdi, die h-moll-Messe von Bach, die Lakmé von Delibes.
Welches waren die schwierigsten Stücke, die Sie interpretiert haben?
Die Schwierigkeit von einem Stück ist nicht unbedingt die technische Schwierigkeit, es gibt Stücke, die schwer sind, weil sie sehr komplex sind. Eine h-moll-Messe von Bach ist ein sehr komplexes und sehr schweres Stück, zu dirigieren, aber in letzter Zeit habe ich eine Komposition, die Missa Salisburgensis von Biber mit 53 Stimmen, bearbeitet. Das ist ein sehr komplexes Stück, weil es gleichzeitig 53 Kontrapunkte sind, die sich mischen und entwickeln, das ist sehr kompliziert. Manchmal kann es auch sehr schwer sein, ein Solostück zu spielen. Manchmal sind die einfachsten Sachen schwer auszudrücken, man muss wirklich ganz tief und sensibel sein, alles muss perfekt sein. Die Qualität einer Musik liegt nicht in der Schwierigkeit der Interpretation, sondern: Emotionen zu vermitteln und das ist noch schwieriger. Man kann lernen, viele Noten zu spielen oder sehr schnell zu spielen, aber man kann nicht lernen, die Schönheit und die Geistigkeit einer Musik zu entdecken. Und das auf das Publikum zu übertragen, das ist etwas, das man entwickeln kann, wenn man das hat, aber nicht jeder hat diese Kapazität und das ist das Mysterium der Kunst. Das ist das gleiche Mysterium, warum eine Melodie von Mozart so genial ist und nicht eine Melodie von Salieri. Salieri ist ein guter Komponist, aber Mozart ist gut und genial. Und mit den Interpreten ist es das gleiche, es gibt viele gute Interpreten, aber es gibt einige, die, außer gut zu sein, die Kapazität haben, in einem Moment etwas ganz Geniales zu machen.
Wie kommt es, dass Sie Deutsch sprechen?
Weil ich 1968 in der Scuola Cantorium Basiliensis in Basel, in der ersten Schule für alte Musik, studiert habe. Dann habe ich 1973 die Stelle meines Lehrers bekommen und habe 20 Jahre dort unterrichtet und habe gut praktiziert (lächelt), ein bisschen Schweizer Akzent.
Sie haben eine CD mit dem „Buch der Musikkunst“ von Dimitrie Cantemir aufgenommen. Wie sind Sie zu diesen Stücken gekommen?
Das ist ein Zufall, ich war ein paar Mal in Istanbul und das zweite Mal haben mir meine Freunde von dort eine neue Ausgabe des Manuskripts von Cantemir mit der Faksimile und den Transkriptionen geschenkt. Ich war neugierig, am Anfang verstand ich nichts von dieser Musik. Dann habe ich angefangen zu studieren und nach zwei Jahren habe ich angefangen, zu verstehen, wie das war, dann habe ich Musiker aus der Türkei und aus Griechenland eingeladen, die Meister waren von Improvisation, Kanunspieler, Kemenchaspieler, Neyspieler, Udspieler, Tamburspieler – alle Instrumente, die in Cantemirs Zeit, für seine Musik, benutzt wurden. Wir haben zusammengearbeitet und angefangen, diese Musik zu spielen und aufzunehmen.
Wie schwer ist es, im 21. Jahrhundert Musiker zu sein?
Es ist sehr schwer, wie in allen Berufen im Bereich der Kunst. Künstler zu sein, ist immer eine Art zu leben, und jeder Anfang, wenn man Kunst oder Musik macht, ist schwer: man braucht viel Arbeit, viel Geduld, viel Ausdauer. Aber ich glaube, das es wichtig ist, Musik zu machen, wenn man dafür geboren ist. Es ist einer der schönsten Berufe der Welt, immer Musik zu machen und diese Musik mit den Menschen zu teilen, das ist fantastisch.
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Auf Wunsch des Meisters soll bis 18.45 Uhr das Publikum den Capitol-Saal nicht betreten. Die Interpreten bereiten sich vor, die Musikinstrumente werden gestimmt. Kurz nach 19 Uhr ist kein freier Platz mehr im Konzertsaal der Philharmonie. Alles, was in Temeswar Rang und Namen hat, ist unten im Saal und oben in den Logen. Die Musiker und das Programm werden angekündigt. Heftiger Applaus, als Jordi Savall und das „Hespèrion XXI“ die Bühne betreten. Und der Applaus ist ebenso stürmisch nach jedem vorgeführten Stück. Ein „Bravo“ übertönt dann und wann den Rumor. Das gesamte Publikum ist von der alten spanischen Musik verzaubert. Nach dem Programm wird solange applaudiert, bis die Musiker zwei Zugaben bieten, denn das Temeswarer Publikum ist verwöhnt und hartnäckig – besonders, wenn auf der Bühne große Namen wie Jordi Savall auftreten.