Nie angekommen und nicht zurückgekehrt

Eine Siebenbürgerin zwischen den Welten – auf der Suche nach Heimatgefühl

Brunhilde Böhls in Tracht auf dem Heimattag in Dinkelsbühl
Foto: George Dumitriu

Mit holländischen Touristen in Draas/Drăuşeni
Foto: privat

Wurzeln schlagen, Blüten treiben, Früchte tragen. So macht es das Apfelbäumchen. Manchmal geht es aber auch andersherum. So, wie der Batullapfelbaum, den Brunhilde Böhls bei Nacht und Nebel ausgegraben hat, aus dem Versuchsgarten einer deutschen Universität. Das zuvor von ihr gespendete Bäumchen sei eigentlich überflüssig, hatte ihr auch die Gärtnerin bestätigt. Wie sie hatte es dort wohl nie so richtig Wurzeln geschlagen... Doch nun gedeiht es in Heltau/Cisnădie. Neue Wurzeln - neue Blüten, neue Früchte.

Der Batullapfelbaum ist das Steckenpferd von Brunhilde Böhls. Begeistert kümmert sie sich um die erneute Verbreitung dieser alten, in Siebenbürgen traditionsreichen Sorte, schreibt Artikel, pflegt einen informativen Blog, vermittelt den Verkauf von Bäumchen. Doch es ist noch etwas anderes, das die 58-Jährige mit dem Apfelbaum verbindet: Erinnerungen an Siebenbürgen. An den großmütterlichen Garten, an die Hochstämme und Halbstämme voller duftender Blüten. Die Verbindung zu ihren Vorfahren: „Der Batullapfel war sehr verbreitet um 1900. Es gab eine Reihe von Maßnahmen, das hab ich in alten Dokumenten gefunden. Den Leuten wurde nahegelegt, bei Taufen oder Konfirmationen ein Apfelbäumchen zu pflanzen.“ Aber auch die Symbolik, die der Baum in ihrem eigenen Leben trägt: Aus Siebenbürgen entwurzelt, fühlte sich Brunhilde in Deutschland nie angekommen. Nun ist sie immer öfter in Heltau. Dort, wo auch ihr Apfelbäumchen neue Wurzeln schlägt.
 

Zwischen den Welten

Brunhilde Böhls wirkt stark wie ein Baum, doch ihre Stimme und die Art, wie sie Erlebnisse reflektiert und Schlüsselsätze über ihr eigenes Leben prägt, verraten Nachdenklichkeit - und eine zarte Seele. „Ich habe jetzt zwei Wohnsitze, Duisburg und Heltau”, setzt sie fort. „Es wäre für mich einfacher, ruhiger, wenn ich abschließen könnte mit einem Kapitel, aber ich kann nicht. Das gehört jetzt zu mir, dieses hin und her.”

Heltau ist nicht die Stätte ihrer Kindheit, ursprünglich stammt sie aus dem Burzenland. In Kronstadt /Braşov geboren, verbrachte sie die ersten Lebensjahre mit ihren Eltern in Rosenau/Râşnov: „Zum Kindergarten in Kronstadt bin ich alleine mit dem Bus gefahren.” In den Sommerferien zog es die spätere Honterus-Schülerin nach Brenndorf/Bod zur Oma mütterlicherseits, oder auch nach Zeiden/Codlea zur anderen Oma, den Cousinen und Cousins. „Wir sind dort viel gewandert, auf den Zeidener Berg gestiegen”, schwärmt sie. Mit Brenndorf verbindet Brunhilde auch die Erinnerung an den herrlichen Obstgarten: „Da bin ich als Mädchen wie ein Junge auf den Bäumen herumgeklettert. Der Birnbaum im Hof wuchs über das Dach und so konnte ich von oben das Storchennest sehen.” Störche – wie selbstverständlich gehörten sie in Siebenbürgen zum Alltag. Lange wusste Brunhilde nicht, was ihr in Deutschland fehlte. „Es waren die Störche. Aber auch das Bellen der Hunde auf dem Dorf, der krähende Hahn, die Naturgeräusche“, stellt sie retrospektive fest. „Jetzt, wo ich nach 40 Jahren zurückkomme, merke ich erst, wie sehr mich das alles bewegt.”

Heltau hatte sie wegen der Nähe zu Hermannstadt/Sibiu und dessen Rolle als Kulturzentrum gewählt. „Ich bin keine Rückkehrerin“ präzisiert Brunhilde Böhls, „sondern irgendwo zwischen den Welten. Ich erlebe immer wieder dieses Auf und Ab. Dieses zu Hause und nicht zu Hause Sein. Auch hier weiß ich nicht... es ist ein Versuch. Ein Versuch, anzukommen.”

Frühe Verluste

Es war die Ausreisewelle siebenbürgischer Intellektueller in den 70er Jahren, die auch ihre Eltern erfasst hatte. Der Vater, Ingenieur, war eines Tages einfach in Deutschland geblieben. Er hatte dort einen Bruder, der nach dem Zweiten Weltkrieg im Ruhrgebiet gelandet war. Brüsk brach die heile Welt der kleinen Familie zusammen. „Meine Mutter hat sofort ihre Anstellung verloren. Wir haben von der Unterstützung der Verwandten gelebt und mussten unser Auto verkaufen”, erinnert sich Brunhilde. Zweieinhalb Jahre wartete die Grundschullehrerin Brunhilde Müll mit ihren beiden Töchtern auf die Ausreisegenehmigung. „Verhöre, Schikanen, es war eine eine schwere Zeit für meine Mutter“, sagt Brunhilde Böhls. Sie selbst hatte damals zum ersten Mal Ausgrenzung erlebt. Denn an der Schule hatte es auch unter den Siebenbürger Sachsen Lehrer gegeben, die meinten, man müsse hierbleiben und durchhalten. Die den Kindern der Ausreisewilligen zu verstehen gaben, etwas Schlechtes zu tun.

1977 war es schließlich so weit. „Die Ankunft in Duisburg hat dann jeder unterschiedlich erlebt”, formuliert Brunhilde diplomatisch. Aus dem Klassenverband herausgerissen und frisch verliebt, war der damals 18-Jährigen die Auswanderung schwer gefallen. Aber auch das Ankommen: „Was ich in der 11. Klasse erlebte, war schlimm: Kein Mensch wollte lernen! Man wurde als Streber ausgegrenzt”. Die Mutter hingegen stürzte sich voll in ihr Lehramt, hatte sich rasch die neue Didaktik angeeignet und wurde verbeamtet. Der Vater war an der Hochschule angestellt. „Doch man kann nicht sagen, dass wir das gelobte Land vorgefunden hätten”, resümiert sie trocken. „Dieses sehr Individuelle, Egozentrische in der deutschen Gesellschaft hat mir noch nie gefallen”. Hinzu kam der frühe Tod der Mutter, mit nur 49 Jahren an Krebs. Die nach der Auswanderung geknüpften Kontakte zu Siebenbürgern versandeten, weil vor allem die Mutter sie gepflegt hatte, bekennt Brunhilde traurig. Erst als die Großmutter nachkam, 1988, hatte sie sich um Kontakt zu Siebenbürger Sachsen in Deutschland bemüht. „Doch für mich waren sie damals nicht so tragend“, fügt sie nachdenklich an.
 

Auf der Suche

Die Sehnsucht nach der alten Heimat kam schleichend. „Oft weiß man ja gar nicht, was einem fehlt”, bekennt Brunhilde Böhls. Vor zwei, drei Jahren hatte sie begonnen, sich im Verband der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen im westlichen Ruhrgebiet als Kulturreferentin zu engagieren. „Die Gemeinschaft, die wir in Siebenbürgen hatten, die hatte mir immer gefehlt. Die suchte ich – aber die gibt es nicht mehr”, musste sie bald erkennen. „Aber es gibt eine andere”, sagt sie hoffnungsfroh. „Ich denke, dass sich die Gemeinschaft neu definieren muss.” Deshalb sei ihr auch die Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche in Rumänien wichtig. Die Stadtpfarrkirche in Hermannstadt war es auch, die ihr den Start in ihr „Doppelleben” erleichterte: „die erste und einzige Organisation, die sagte, ‘Ja, Sie dürfen gerne für uns arbeiten!’”. Bei ihren immer häufigeren Siebenbürgen-Aufenthalten begann sie, Artikel für den Gemeindebrief zu schreiben, lernte soziale Projekte kennen, „Hammersdorf, die Arbeit mit Roma-Kindern, Schellenberg – mit Menschen, die im Alltag Hilfe brauchen, immer in Verbindung mit Landwirtschaft und immer um eine Kirchenburg herum”, begann, Kirchenburgen-Führungen zu übernehmen, in Heltau als auch in der Stadtpfarrkirche. Im Tourismus würde sie sich gerne beruflich engagieren. „Das Harbachtal für Fahrradtouren erschließen”, schwärmt sie als ehemalige Gästeführerin und Radtouren-Leiterin im Ruhrgebiet.

„Ich erlebe in Rumänien große Neugier mir gegenüber”, bemerkt Brunhilde Böhls erstaunt. Freude, Interesse. „Einige sagen mir, dass sie froh sind, dass ich hier bin. - Das hat man in Deutschland nie gehört.”

Das Hineinschnuppern in die neue, alte Welt verleiht auch ein neues Lebensgefühl. Ist es Glück? „Ja”, gesteht Brunhilde Böhls offen. Und bekräftigt noch einmal: „Die Intuition sagt ja. - Nur, man weiß ja nie, was sein wird”, beeilt sie sich anzufügen. „Von Rumänien werde ich nicht nur angezogen, es gibt auch viel, was mich wegtreibt aus Deutschland“ resümiert sie. „Eine Frau, die nicht mehr jung ist und keine Kinder hat, hat dort nichts...” Fast ärgerlich bricht es aus ihr heraus: „Ich weiß nicht, wo diese Gesellschaft hin will!”

Im Land des inneren Kindes

Brunhilde ist Kirchgängerin geworden, singt im Chor und freut sich, weil sie endlich wieder Sächsisch reden kann. Die Großmutter hatte sie früher immer damit genervt, gesteht sie. „Doch als meine Oma 2009 starb, hat es noch ein paar Jahre gebraucht, bis ich gemerkt habe - jetzt ist niemand mehr da, mit dem ich Sächsisch sprechen kann!” Wie sehr die eigene Sprache zu ihrer Identität gehört, merkte sie auch an ihrer 2016 abgeschlossenen Bachelorarbeit über die deutsche Sprache in Rumänien. Das in der Jugend abgebrochene Studium nachzuholen war ein langgehegter Herzenswunsch gewesen. Den zweiten wagt sie noch gar nicht auszusprechen...

„Ich komme zurück in das Land des inneren Kindes”, erkennt Brunhilde Böhls. „Das hilft mir. So, wie es mir in schlimmen Zeiten geholfen hat, an meine Oma oder an die Vorfahren zu denken, die es schließlich auch nicht leicht hatten.“ Die Oma war früh Witwe geworden und musste ihr Leben lang arbeiten. Ihr selbst hat das Leben auch ein Päckchen zu tragen gegeben: Entwurzelung, enttäuschte Liebe, Krankheit, zerbrochene Ehe. Doch der Gedanke an die starke Großmutter gibt ihr Kraft und verbindet. „Irgendwann dachte ich, was liegt näher, als den Schritt auch geografisch zu tun?“, gesteht Brunhilde Böhls.

Das Batullapfelbäumchen, das nun im Heltauer Garten gedeiht, macht es vor: Es ist nie zu spät für neue Wurzeln. Und nie zu spät zum Blühen.