Papier ist der Botenstoff der Revolution – besonders in der Kunst. Als die italienische Kunsttheorie vor fünfhundert Jahren verkündete, dass die geistige Bilderfindung von höherem Wert als die manuelle Ausführung eines Kunstwerks sei, hatte dies zwei weitreichende Folgen: Einerseits die Geburt des neuzeitlichen Kunstbegriffs, der den schöpferischen Intellekt höher bewertet als das bloße Handwerk; und andererseits den unaufhaltsamen Aufstieg der „Kunst auf Papier“. Als authentischer Ausdruck des schöpferischen Künstlergeistes gefeiert, wurde die Handzeichnung zum begehrten Sammlerstück. Denn findet nicht der kreative Entwurfsprozess eines Kunstwerks zumeist im Medium der Zeichnung statt? Offenbart sich nicht ebendort die individuelle Handschrift des Künstlergeistes am reinsten?
Die neue Wertschätzung, die die Zeichnung erfuhr, griff im Nu auf Holzschnitt, Kupferstich und Radierung über. Die druckgrafischen Vervielfältigungstechniken boten einen entscheidenden Vorteil: Sie konnten einen gelungenen Bildentwurf vielfach verfügbar machen. Druckgrafik wurde die „vervielfältigte Zeichnung“, durch die künstlerische Ideen weite Verbreitung fanden. Selbst große Maler wie Albrecht Dürer oder Andrea Mantegna arbeiteten deshalb als Holzschneider, Kupferstecher und Radierer. Mit zunehmender Verbreitung fanden ihre Arbeiten auch vermehrte Bewunderung und wurden umso öfter nachgeahmt. So kopierte der Augsburger Meister Daniel Hopfer das antikisierend-ausschweifende „Bacchanal“ Mantegnas und vermittelte dem deutschen Publikum das neue italienische Körperideal. In Rom ließ der göttliche Raffael seine Zeichnungen sogar durch geübte Kupferstecher systematisch vervielfältigen und verbreiten – flugs schwappte die italienische Hochrenaissance über die Alpen und beendete die Allmacht der Gotik. Auch über die folgenden Jahrhunderte blieb die Druckgrafik das entscheidende Vermittlungsmedium, über das Italien seine Kunstschätze exportierte. Als das achtzehnte Jahrhundert sich anschickte, das antike Pompeji auszugraben, war es wiederum die Druckgrafik, die dem staunenden Europa die Welt der erloschenen Stadt präsentierte und dem aufkommenden Neoklassizismus damit eine unerschöpfliche Quelle antiker Kunstformen eröffnete.
Zwischen dem zerbrechlichen Reiz der papierenen Kleinkunst und dem ungeheuren Einfluss, den sie seit der Renaissance auf die Geschmacksnerven der Welt ausübt, liegt folglich ein überraschendes Missverhältnis, das auch Zsigmond Ormos (1813 – 1894) fasziniert haben muss. Der aus Petschka/Pecica stammende hohe Staatsbeamte der ungarischen Monarchie war gleichzeitig ein eifriger Kunstsammler – mit einer Vorliebe für italienische und deutsche Renaissancekunst. Ein bedeutender Teil der Gemälde- und Grafiksammlung, die er in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zusammen trug, befindet sich heute im Temeswarer Kunstmuseum.
Das Brukenthalmuseum hat bis vor Kurzem eine Auswahl von etwa vierzig Originalgrafiken aus dieser Sammlung präsentiert, die in dreifacher Hinsicht bemerkenswert ist. Zunächst lässt sich entlang der ausgestellten Werke ein ebenso vergnüglicher wie lehrreicher Spaziergang durch die Geschichte der Druckgrafik zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert machen. Dann ist hervorzuheben, dass die Ausstellung einige seltene Druckgrafiken vereint, die Werke ausgesprochener Meister des Fachs sind: Für das spektakuläre sechzehnte Jahrhundert mögen beispielhaft Albrecht Dürer und Lucas van Leyden genannt sein. Andere Werke werden Meistern des „goldenen“ siebzehnten Jahrhunderts wie Salvator Rosa und Jusepe de Ribera zugeschrieben. Und selbst die Reproduktionsgrafik des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts bleibt oft nicht bei der sklavischen Wiedergabe ihrer Vorlagen stehen, sondern überrascht, wie die Wiedergabe pompejanischer Wandbilder von Paolo Fumagalli, durch ihren skrupellosen Mut zur verlebendigenden Adaption. Neben den Druckgrafiken werden dann aber auch einige beeindruckende Handzeichnungen gezeigt, die als Werke von Künstlergrößen des Frühbarock wie Agostino Caracci und Jacques Callot ausgewiesen sind.
Zu Recht weist allerdings die Beschilderung der Ausstellung darauf hin, dass es sich bei einigen der klangvollen Künstlernamen um – höchstwahrscheinlich sehr alte, eigentlich veraltete - Zuschreibungen handelt. Gerade die unsignierten Zeichnungen lassen trotz bestechender Qualität Spielraum für Zweifel an der Zuschreibung. Bei der Druckgrafik ist das Problem der Authentizität noch delikater: Hier muss nicht nur zwischen Original, Kopie und Fälschung unterschieden werden, sondern auch zwischen zeitgenössischen und späteren Abzügen. Und besonders wenn ein Werk, wie im Falle eines Martin Schongauer zugeschriebenen Blattes, zwar Schongauers typisches Signet trägt, sonst aber himmelweit von dessen spätgotischer Virtuosität entfernt ist, keine weiteren Abzüge davon bekannt sind und darüber hinaus auch noch die Druckqualität verdächtig frisch wirkt, ist der ausdrückliche Vermerk einer ungesicherten Zuschreibung berechtigt und das Temeswarer Museum zu einer Überprüfung seiner Zuschreibung aufgefordert. Gerechtigkeitshalber muss nun allerdings angemerkt werden, dass die Erfüllung dieser Forderung leider auf objektive Hürden trifft, von denen das landesweite Fehlen wissenschaftlicher Basisliteratur wohl die betrauernswerteste ist.
Standardkataloge zur Altmeistergrafik wie die Publikationsreihen des „Hollstein“ und des „Illustrated Bartsch“ gehören im Ausland zur unverzichtbaren Grundausstattung von Grafikkabinetten, ermangeln hierzulande aber ganz und gar. Dies ist der Grund, warum in zahlreichen der hiesigen Museen notgedrungen der Wissensstand des 19. Jahrhunderts perpetuiert wird. Wir werden also noch eine Weile warten müssen, bis wir tatsächlich wissen, was genau sich in den Altmeisterbeständen der grafischen Sammlungen unserer Museen verbirgt.