Aufschlussreiche Zahlen liefert das rumänische Fachblatt „Ziarul Financiar“ in seiner Ausgabe vom 22. Dezember 2015. Die Journalisten dieser Bukarester Zeitung, der durch ihre wirtschaftliche Ausrichtung einzig seriös gebliebenen rumänischsprachigen Tagespublikation dieses Landes, haben 22 verschiedene Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung Rumäniens zwischen 1990 und 2013/2014/2015 zusammengetragen. Für die Antwort auf die Frage, was aus diesem Land in dem vergangenen Vierteljahrhundert geworden ist, liefern diese Indikatoren wichtige Bausteine.
Höhere Ausfuhren, weniger Beschäftigte, mehr Rentner
Man schaue sich die Zahlen an, beginnend mit Landwirtschaft und Ernährung. 1990 zählte man 365.091 Traktoren und sonstige landwirtschaftliche Maschinen. 2014 waren es um knapp 40 Prozent mehr, und zwar 505.034. Wurden 1990 in den damals noch existierenden LPGs und Staatsfarmen sowie auf den Bauernhöfen 5,38 Millionen Rinder, 12 Millionen Schweine und 14 Millionen Schafe gezüchtet, so waren es 2014 nur noch 2 Millionen Rinder, 5 Millionen Schweine und 9,5 Millionen Schafe. Wurden 1990 7,3 Millionen Tonnen Weizen, 3,2 Millionen Tonnen Kartoffeln und knapp 11.000 Tonnen Raps eingefahren, so erntete man in Rumänien 24 Jahre danach 7,58 Millionen Tonnen Weizen, 3,5 Millionen Tonnen Kartoffeln und 1 Million Tonnen Raps.
Zur Ernährung: 140 Liter Milch trank der Durchschnittsrumäne 1990 pro Jahr, 2013 waren es 237,4 Liter. Knapp 57 Kilogramm Fleisch wurden 1990 pro Kopf gegessen, 2013 waren es 54,4 Kilogramm. Halbiert hat sich der Rindfleischkonsum von 10,9 Kilogramm damals auf nur noch 5,1 Kilogramm pro Kopf und Jahr zurzeit. Es werden um 13 Prozent weniger Äpfel gegessen als 1990, dafür aber doppelt so viele Melonen, nämlich 12,3 Kilogramm pro Jahr und Kopf 1990 und 25,4 Kilogramm im Jahr 2013. Auf das Dreifache ist der Verbrauch von Margarine gestiegen, auf 86,8 Liter pro Jahr und Kopf hat sich der Bierkonsum verdoppelt.
Das volkswirtschaftliche Bild ist von einer brisanten Diversität. Die Ausfuhren sind zwischen 1991 und 2014 auf das Fünfzehnfache, von umgerechnet 3,49 Milliarden Euro auf 52,4 Milliarden Euro, gestiegen, das Bruttoinlandsprodukt hat sich von umgerechnet 42,6 Milliarden Euro im Jahre 1989 auf 150 Milliarden Euro im Jahre 2014 verdreifacht. Doch die Anzahl der Arbeitnehmer hat sich halbiert: 1990 galten 8,2 Millionen Bürger als beschäftigt, Ende August 2015 waren es nur noch 4,6 Millionen. Lagen die Staatsschulden 1989 bei Null, betrugen diese im Jahre 2014 54 Milliarden Euro, was einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Die Zahl der Rentner ist um 40 Prozent gestiegen: 1989 gab es pro Rentner 2,2 Beschäftigte, 2014 dann nur noch 0,85 Beschäftigte für jeden Rentner. Und kamen im ersten Jahr nach dem Zusammenbruch von Kommunismus und Planwirtschaft 314.746 Kinder auf die Welt, so gebaren Rumäniens Frauen 2014 nur 185.322 Kinder.
Die Geburtenrate liegt nun bei 1,3 Kinder pro gebärfähiger Frau, es ist der niedrigste Stand in Europa. Und: 207.000 Betten gab es 1990 in Rumäniens Spitälern, 25 Jahre danach nur noch knapp 131.000. Gebaut wurden 840.000 Wohnungen, der Wohnraum ist von 8 Millionen Wohnungen auf knapp 8,9 Millionen gestiegen. Auch folgende Statistik dürfte interessieren: Schafften im Jahre 1990 nur fast 26.000 Bürger ihren Hochschulabschluss, so waren es 2013 bereits 95.000. Brachten es 1990 knapp 116.000 rumänische Jugendliche zu einem Berufsschulabschluss, so waren es 2013 etwas weniger als 12.000. Dass man keinen ordentlichen Klempner oder Tischler findet, geschweige denn einen Schneider, Schuster, einen Kfz-Mechaniker oder einen Bäcker, der von seinem Metier auch etwas versteht, erschließt sich nun von selbst.
Stabile Institutionen sind fernes Ziel
Zugegeben: Die Zahlen sind trocken. Obwohl auch über ihre Aussagekraft viel gestritten werden kann und sie auf einfachste Art und Weise politisch, ja ideologisch missbraucht werden können, sollte man ihnen doch eine gewisse, selbstverständlich kritisch eingestellte Beachtung schenken. Fest steht, dass man diese Statistiken nur dann richtig beurteilen kann, wenn man sie in den richtigen historischen Kontext stellt: Wenn man die prekäre politische und soziale Ausgangslage in Betracht zieht sowie die Stagnation der ersten sechs Jahre unter Präsident Ion Iliescu, die überhasteten, kaum durchdachten Reformen der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, dann die definitiv proeuropäische Weichenstellung ab 1999/2000 und den dadurch entstandenen Reformdruck von außen, die grassierende Korruption der Epochen Ion Iliescu/Adrian Năstase und Traian Băsescu/Emil Boc, die Wirtschaftskrise 2009/2010 mit ihren teilweise irrationalen Bekämpfungsmaßnahmen von vor fünf Jahren. Alles gepaart mit der ungeahnten Plünderung öffentlicher Kassen. Ein einziges Beispiel genügt, nämlich jenes der Agentur für die Rückerstattung enteigneten Eigentums, um das Ausmaß des Schadens zu begreifen, das rumänische Bürger dem rumänischen Staat, also anderen rumänischen Bürgern, zugefügt haben.
In dieses Licht gestellt, sagen die angeführten Statistiken Folgendes aus: Perfekt ist nichts gelaufen in diesem Land im vergangenen Vierteljahrhundert. Vieles hätte vermieden werden, manches hätte tatsächlich besser gemacht werden können. Einige der nicht wenigen Schäden werden nie wieder gutzumachen sein. Es ist auch Unrecht geschehen, und zwar in Hülle und Fülle, und so mancher ist an Demokratie, Kapitalismus und Transformation sicherlich verzweifelt. Denn was diesem Volk nicht gelungen ist – und das ist an den trockenen Zahlen der Ökonomen nur beschränkt abzulesen – ist der Aufbau von Institutionen. Formell gibt es sie, natürlich, und einige funktionieren sogar. Oder besser gesagt: Einige funktionieren immer besser, zum Beispiel Teile der Strafjustiz.
Stabile Institutionen, bürgerorientierte Institutionen, Ämter, die sich als öffentlicher Dienstleister verstehen, Ministerien, die das Gemeinwohl hüten und vorantreiben, all dies ist nur in Ansätzen erkennbar. Um das Grundlegende in einer Demokratie, die sich auf eine soziale Marktwirtschaft stützt, und umgekehrt, am Leben zu erhalten, zu fördern und zu pflegen, reichen diese Ansätze eben nicht. Denn sie schaffen kein Vertrauen zwischen Bürger und Staat und auch nicht zwischen Staat und Bürger. Sie kitten die Klüfte nicht zwischen Land und Stadt, zwischen Neureichen und Verarmten, zwischen den wenigen Gewinnern der andauernden Transformation und den vielen Verlierern. Sie reichen nicht aus, um das verallgemeinerte Misstrauen und den Mangel an gesellschaftlicher und ökonomischer Solidarität aus dem Weg zu räumen und die Bürger für das gemeinsame Vorhaben „Rumänien” zu begeistern. Dass dies keinem Politiker und keiner Partei nach 1990 gelang, mit der wenig ruhmvollen Ausnahme des Ion Iliescu der ersten Stunde, ist inzwischen ein Gemeinplatz. Nebenbei bemerkt: Damals hätte dieser Mann das Land in richtige Bahnen lenken können, doch die Zeichen der Zeit hat er nur schwer und (zu) spät begriffen. Man nehme es ihm aber nicht allzu übel, das Volk wollte ihn damals, so wie er war, und nicht so wie er hätte sein können – ja sein müssen.
Der Königsweg läuft über Bildung
Müsste man jedoch – alle berechtigte Kritik in Ehren – nicht erwidern, dass trotz der Mängel, des Unrechts, des jahrelangen Reformstaus, trotzdem viel geleistet wurde? Dass es auch viel schlimmer hätte kommen können? Dass das Land heute zwischen einer schwachen Europäischen Union, einer desinteressierten Hegemonialmacht USA und einem erstarkenden Russland (geschickter) hätte lavieren können? Dass es niemals Reisefreiheit hätte geben können, keine freien Wahlen, keine freie Meinungsäußerung, keine überbordenden Regale im Supermarkt? Sicher, es hätte auch so kommen können, nur ist es, Gott sei Dank, nicht so gekommen.
Was fehlt, ist Bildung. Allein Bildung bietet den Königsweg zu den heute noch in Inhalt, Zielsetzung und Personalbesetzung an Mangel leidenden Institutionen und zu dem unverzichtbaren gegenseitigen Vertrauen der Bürger in ihren Staat einerseits und des Staats in seine Bürger andererseits. Sonst gibt es in 25 Jahren erneut Statistiken und vielleicht werden dann noch weniger Äpfel und noch mehr Melonen gegessen und die Ausfuhren steigen noch einmal um das Fünfzehnfache. Besser wird es aber den Bürgern nicht gehen, unzufrieden werden sie sich erklären mit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lage, und zwar „wie noch nie zuvor.” Dieses „wie nie zuvor” heißt dann: genauso wie vor 25 Jahren. Also 2015.