Wenn das Heimweh zu groß wird, schaut sich Irina übers Internet Island per Live-Übertragung an. Für ein paar Minuten sieht sie dann am liebsten, wie es gerade am Tjörnin aussieht, dem kleinen See mitten in der Innenstadt von Reykjavik. Wie die gelben Stadtbusse über die Brücke fahren, die Passanten an der Uferpromenade entlang spazieren und die Enten auf dem Wasser schwimmen. Im Hintergrund sieht man die Gebäude der Universität Island und die Berge. Manchmal fliegen Möwen. Es ist ein idyllisches Bild, unaufgeregt.
Ein Semester lang hat Irina in Islands Hauptstadt verbracht. Wie viele andere europäische Studenten ist sie über das Austauschprogramm Erasmus ins Ausland gegangen. Allerdings wollte sie in kein Land, wo sie andauernd von ihren rumänischen Landsleute umgeben sein würde, wie in Spanien, Frankreich oder Italien. Island war ihre zweite Wahl. Die 21-Jährige hatte aber gar nicht wirklich damit gerechnet, schon im dritten Semester zu gehen. „Ich dachte, ich würde es einfach nächstes Jahr noch mal versuchen, als ich die Nachricht erhielt, einen Platz in Reykjavik bekommen zu haben.“
Der Unterschied zwischen Rumänien und Island könnte größer nicht sein, findet die Studentin. Vor allem in Bukarest, wo sie an der Wirtschaftsakademie ASE eingeschrieben ist, geht es viel hektischer zu als in dem kleinen Inselstaat irgendwo im Meer zwischen Grönland und Norwegen. „Die Autofahrer in Island halten tatsächlich an den Zebrastreifen an. In Bukarest haben es immer alle so eilig, dass ich es gar nicht gewöhnt war, dass die Leute anhalten, wenn ich noch auf dem Bürgersteig stehe“, erzählt sie. Kaum 320.000 Einwohner leben in ganz Island, über zwei Drittel davon im Raum Reykjavik. Dementsprechend ruhig ist der Verkehr. Auch die Isländer selbst sind entspannt. Stress begegnet man selten hier im Norden. Das optimistische Motto des Landes lautet: Þetta reddast! Zu Deutsch: Es wird schon werden!
Im Januar hat Irina ihre Sachen gepackt, um über vier Monate auf der Vulkaninsel im nordatlantischen Ozean zu verbringen. Ob das eine gute Idee ist, so weit wegzugehen, darüber gibt es zu dem damaligen Zeitpunkt unterschiedliche Meinungen. “Als ich meiner Mutter davon erzählte, schwieg sie für einige Minuten. Dann sagte sie: Es ist sehr weit weg.“ Bei Problemen schnell mal mit dem Auto vorbeikommen und nach dem Nachwuchs sehen, ist nicht möglich, auch die Flüge nach Island sind relativ teuer. Mit etwa 400 Euro für Hin- und Rückflug muss man rechnen. Direkte Verbindungen nach Rumänien gibt es nicht. „Meine Mutter weiß, dass ich sehr chaotisch bin“, sagt Irina. „Ich bin niemand, der einfach klarkommt. Wenn etwas Schlimmes passiert, fange ich nur an zu schreien, ohne etwas zu tun.“
Trotzdem wird Irina von Freunden und Verwandten dazu ermutigt, den Schritt zu wagen. „Sie alle haben mir gesagt, ich sollte dorthin gehen.“ Denn wie oft bekommt man schon die Möglichkeit geboten, in Island zu leben? Von Anfang an wird sie von einem Buddy betreut, einem isländischen Studenten, den die Partner-Uni ihr zur Seite stellt. „Ohne meinen Buddy wäre ich komplett verloren gewesen“, meint Irina. „Am Anfang war er in seinen Briefen noch sehr formell. Als ob er nur seine Pflicht täte. Aber mit der Zeit ist er immer mehr aufgetaut und freundlicher geworden. Zu meiner Ankunft hat er mir Bier gekauft. Er hat viel mehr getan, als von ihm erwartet wurde.“ Auch die restlichen Insulaner erlebt sie als äußerst freundlich. „Die Leute sind so nett zu dir. Man hat fast den Eindruck, sie erwarten etwas als Gegenleistung, weil sie so hilfsbereit sind. Es ist wie in einer großen Familie.“
Dennoch wird ihre Handtasche schon am ersten Abend in einer Diskothek gestohlen, samt Wohnungsschlüssel. Sie übernachtet bei Michael, einem neuen Freund und Erasmus-Student wie sie. Ihre Tasche bekommt sie ohne Umstände schon am nächsten Tag wieder. Auf Facebook wird sie angeschrieben, man hätte ihre Sachen gefunden. „Ich habe dann gemerkt, dass es auch in Island gefährlich sein kann. Aber ich habe mich trotzdem sicher gefühlt, weil ich merkte, dass es Leute gibt, die dir helfen werden“, berichtet Irina. Ohne Bedenken geht sie auch nachts ohne Begleitung nach Hause. Betrunkene auf der Straße machen ihr in Island keine Angst. „Du weißt, es wird dir nichts passieren. Niemand wird dich angreifen.“ Ganz sicher ist Island trotzdem nicht, im Mai berichteten die Zeitungen vom ersten und bis jetzt einzigen Mord des Jahres. In keinem anderen Land ist die Statistik zu gewaltsamen Todesfällen niedriger.
Auch sonst ist die Lebensqualität sehr hoch. Die Wirtschaftskrise im Jahr 2008 scheint überwunden. Die Arbeitslosenquote ist niedrig. Analphabeten gibt es nicht. Irina ist erstaunt, als ihre 70-jährige Vermieterin sie mit dem Auto vom Flughafen abholt. Die beiden sprechen Englisch miteinander. Für Irina ist der Vergleich zu Rumänien manchmal schmerzhaft. „Es wäre schön, wenn die eigene Oma dieselben Dinge täte wie meine Vermieterin in Island. Einen Computer benutzen, E-mails verschicken, Englisch sprechen.“ Sie fügt ein bisschen wehmütig hinzu: „Du möchtest, dass dein Land ist, wie dieses Land.“
Trotzdem gibt es einige Dinge, die Irina in Island vermisst. Freunde und Familie. Das Essen. Die rumänischen Feiertage, wie das Frühlingsfest oder das orthodoxe Osterfest. „Ich habe versucht, in die Kirche zu gehen. Im Internet hatte ich gesehen, dass es eine russisch-orthodoxe Kirche gibt. Ich habe erwartet, wenn ich die Straße entlang gehe, dass ich eine Kirche sehe, aber es war nur ein normales Haus mit vielen Bildern von Jesus in den Fenstern. Aber alles war zu. Da habe ich beschlossen, dieses Jahr kein Ostern zu feiern“. Stattdessen erlebt sie das isländische Osterfest: „Meine Vermieterin war sehr nett. Sie hat mir ein Schokoladenosterei geschenkt. Es ist üblich, dem jüngsten Mitglied im Haushalt ein Ei zu schenken. Und ich war die Jüngste“, berichtet sie. Gesucht werden müssen die Ostereier in Island nicht, dazu liegt draußen zu oft noch Schnee. Aber es ist ein Familienfest, zu dem man sich gegenseitig besuchen fährt.
Tatsächlich ist auf Island fast jeder mit jedem irgendwie verwandt, die Familienverhältnisse lassen sich im „Buch der Isländer“ nachlesen. Seit 1997 wurden die Daten von allen Inselbewohnern zusammengetragen, die in den letzten 300 Jahren auf Island gelebt haben. Seit Kurzem gibt auch eine App für Smartphones zur Bestimmung des Verwandtschaftsgrads zu einem anderen Smartphoneträger, die von Informatik-Studenten der Universität Island entwickelt wurde.
Auf der Insel gibt es insgesamt nur sieben Hochschulen, davon sind gerade mal vier in staatlicher Hand. Die ASE hat eine Partnerschaft mit der Universität Reykjavik, der größten Privatuniversität des Landes, die vorwiegend Studiengänge in den Bereichen Wirtschaft und Technik anbietet. „Als ich das erste Mal zur Hochschule kam, war mein erster Gedanke: Ist das eine Universität oder eine Art Raumschiff?“, erzählt Irina. „Sie sieht so beeindruckend aus. Sie besteht nur aus Stahl und Glas.“ Vor allem die Ausstattung ihrer Gasthochschule ist beachtlich. Die Universität stellt den Studenten Stifte und Papier umsonst zur Verfügung. Bis zu 300 Seiten dürfen pro Semester kostenlos ausgedruckt werden. Neben den Computerarbeitsplätzen gibt es im ganzen Gebäude drahtlosen Internetzugang.
Überall stehen Tische, Stühle oder Sessel für die Studenten. Zudem ist das Gebäude rund um die Uhr geöffnet, wenn jemand eine Nachtschicht einlegen möchte. Auch die Kurse sind kleiner. In keiner Veranstaltung sitzen mehr als 20 Studenten. „Es ist leichter, sich zu konzentrieren, wenn es nur so wenig Leute sind“, meint Irina. Trotzdem sind die Vorteile, die die Universität Reykjavik zu bieten hat, nicht ganz billig. Als private Hochschule ist sie, anders als zum Beispiel die Universität Island, gebührenpflichtig. Über 1500 Euro, je nach Wechselkurs, muss für ein Semester bezahlt werden.
Als Erasmus-Studentin bleiben Irina jedoch die Studiengebühren erspart und sie erhält zudem ein Stipendium von über 2000 Euro für ihren Aufenthalt. Viel Geld ist das trotzdem nicht in Island, denn die Lebenshaltungskosten sind, wie in allen nordischen Ländern, sehr hoch. Island besitzt kaum eigene Ressourcen, das meiste muss importiert werden. Trotzdem, die vorhandenen Ressourcen werden bestmöglich genutzt: Vor allem von der Erdwärme ihrer Vulkan-Insel profitieren die Isländer. Das Warmwasser kommt meist aus heißen Quellen. Die sind schwefelhaltig, deshalb muss man sich am Anfang erst daran gewöhnen, dass es in der Dusche immer ein bisschen nach faulen Eiern riecht.
Eine andere Sache ist die Sprache. Auch wenn man sich leicht mit Englisch verständigen kann, sind die Isländer doch stolz auf ihre Landessprache und betrachten sie als wichtigen Teil ihrer nationalen Identität. „Als ich in den ersten Wochen in den Supermarkt ging, habe ich lauter idiotisches Zeug gekauft, weil ich nicht verstanden habe, was auf den Etiketten geschrieben war“, erzählt Irina lachend. Ein Sprachkurs an der Uni schafft dem jedoch Abhilfe und bringt den ausländischen Studenten das Grundwissen in Isländisch bei.
Auch das Wetter ist gewöhnungsbedürftig. Eisige Kälte braucht man trotz des Namens Islands zwar nicht erwarten, im Winter liegt die Temperatur in Reykjavik meist etwas über dem Gefrierpunkt. Aber auch im Sommer wird es nur selten wärmer als 15 Grad, denn es weht fast ständig ein eisiger Wind, gegen den sich die Isländer mit ihren typischen warmen Wollpullovern schützen. „Ich bin im Winter angekommen und ich bin im Winter wieder gefahren, weil es im Mai immer noch geschneit hat,“ meint Irina. Regen, Schnee und Sonnenschein wechseln sich oft in kürzester Zeit ab.
Aber von so etwas lässt sich in Island niemand wirklich stören. Naturwunder wie der Geysir Strokkur oder die berühmten Wasserfälle werden das ganze Jahr über besucht. „Das aufregendste Erlebnis für mich war das Schwimmen im Meer Mitte März“, erinnert sich Irina. Die Wassertemperaturen sind nur ein paar Grad über Null. Trotzdem wollen es fast alle Austauschstudenten am Stadtstrand gleich hinter der Universität Reykjavik ausprobieren. „Wir waren so aufgeregt, als ob wir einen Test bestehen müssten. Ich habe immer noch Gänsehaut, wenn ich daran denke.“ Zum Aufwärmen hinterher geht es in einen „heitt pott“, also einen heißen Topf am Strand. Jedes Schwimmbad, und davon gibt es in Island eine Menge, ist mit diesen Wasserbecken mit Temperaturen zwischen 38 und 40 Grad ausgestattet. Abends treffen sich die Isländer dort gerne noch zu einem Plausch und lassen den Tag ruhig ausklingen.
„Ich liebe Island“, seufzt Irina. Seit Ende Mai ist sie wieder zurück in Rumänien, ganz glücklich ist sie darüber nicht. Natürlich ist sie froh, Familie und Freunde wiederzusehen. Ihre Mutter hat ihr all ihre Lieblingsgerichte gekocht. Gleichzeitig sehnt sie sich aber auch zurück nach den freundlichen Isländern und der Insel im Nordatlantik. „Es ist so anders als der Kontinent.“, meint sie. „Es ist eine ganz andere Welt. Es ist auf eine eigenartige Weise schön.“ Wenn sie ihren Bachelor beendet hat, möchte sie wieder zurück. Entweder um dort zu arbeiten oder um ihren Master zu machen.