Der Freiheitsplatz versinkt im Dunkeln und dann schlägt der Gong. „Freiheit“, „liberté“, „freedom“, „libertate“: Das Wort ertönt nach jedem Gongschlag in mehreren Sprachen, während ein Licht über die versammelten Menschen gleitet. Ein Geräusch wie von rasenden Pferden füllt den Raum. Plötzlich wird es wieder still. Ein Mädchenchor trägt Lieder in rumänischer Sprache vor. Es ist „Frieden“, „paix“, „peace“, „pace“. Das Licht beleuchtet ein Fenster des Timi{ana-Palais. Eine Mutter mit einem Baby im Arm steht an der Fensterbank. Das Kind schreit laut. Der Erste Weltkrieg ist vorbei und Luca erblickt das Licht der Welt. Es soll aber nicht der einzige Krieg sein, den der junge Mensch erlebt.
„Das Licht der Freiheit“ heißt das Projekt des Vereins „Temeswar – Kulturhauptstadt Europas 2021“, das zwischen dem 21. und dem 23. September dem Temeswarer Publikum dargeboten worden ist. Dabei handelt es sich um eine Performance in drei Akten, die zur Hundertjahrfeier der Gründung Rumäniens erarbeitet worden ist. Performative Künste, Musik, Akrobatik, visuelle Künste und Lichtinstallationen – das alles durfte das Temeswarer Publikum am Freitag-, Samstag- und Sonntagabend, stets nach Einbruch der Dunkelheit, genießen. Am ersten Abend war der Freiheitsplatz voll, etwas weniger Menschen kamen am Samstag und Sonntag zur Vorstellung. Doch auch dann war die Show sehr gut besucht.
Zwar hatten sich manche Zuschauer beklagt, dass man dem Geschehen nicht immer folgen konnte, schließlich waren die Schauplätze über den gesamten Freiheitsplatz verteilt. Doch genau das war Sinn der Sache: Die Aufführung sollte das Publikum aktiv am Geschehen teilhaben lassen – die Show lief nämlich unter den Menschen. Nicht umsonst lautet auch das Motto des Kulturhauptstadtprojektes „Shine your light - Light up your city“ (Lass dein Licht leuchten – Erhelle deine Stadt), ein Imperativ, der an die Bürger selbst gerichtet ist. Sie sollen aktiv zum Wohle der Stadt, der Gemeinschaft beitragen.
Derselbe Schauplatz, einen Abend später. Um dem Geschehen zu folgen, sind einige Leute auf das Dach des Armeehauses gestiegen. Von da hört man zwar nicht mehr im Surround-Modus, doch das Panorama ist perfekt. Die Hauptgestalt mit weißer Maske, Luca, zieht in den Krieg. Am Samstag-Abend fliegen Maschinen über Temeswar – auf die Luftangriffe aus dem Zweiten Weltkrieg spielen die Lichteffekte der Bulgarin Michaela Kavadanska an, die auf das Timi{ana-Palais projiziert werden. Das Gebäude fällt brockenweise auseinan-der, brennende Mauerreste bleiben übrig. Das Aha-Erlebnis ist garantiert. Die Sowjets marschieren durch den rot beleuchteten Platz. Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, die Menschen jubeln – doch es soll schlimmer werden, denn der Kommunismus gewinnt langsam die Oberhand in Rumänien.
Die sehr jungen Temeswarer, die sich am Freiheitsplatz versammelt haben, sind in Friedenszeiten zur Welt gekommen. Viele von ihnen haben nur wenig Kenntnisse über den Kommunismus. Die nachgespielte Revolution von 1989 soll am Sonntagabend das Gefühl von damals vermitteln. Angst, Revolte, Ärger, Verzweiflung – gerade bei den älteren Semestern kommen viele Erinnerungen hoch, als die „Revolutionäre“ auf den Platz stürmen. Das Stück vermittelt viel, man bekommt regelrecht Gänsehaut, und gerade kleine Kinder, die der Show beiwohnen, verspüren die authentische Angst, die norma-lerweise der Wirrwarr einer Revolte hervorruft. Luca, diesmal auf Stelzen, durchsticht das meterlange, gelbe Band, das zusammen mit dem roten und dem blauen Band symbolhaft die rumänische Flagge bildet. Sichel und Hammer wurden aus der Flagge herausgeschnitten, Rumänien bereitet sich auf die Demokratie vor. Die Euphorie ist groß, aber bringt sie auch das, was sich die Menschen davon versprechen? Lucas Enkelkind wird geboren – doch hat sich Lucas Kampf auch wirklich gelohnt?
„Das Licht der Freiheit“ war grandios. Mehr als hundert Künstler wirkten bei der Verwirklichung des Stückes mit. Einen Beitrag dazu leisteten die Musiker der Banater Staatsphilharmonie, die Schauspieler des Auăleu-Theaters, Boris Kovacs & Orchestra aus Novi Sad, Rupert Huber aus Österreich, die Magnum-Tanzschule, die Temeswarer Zirkusschule u. v. m. Das Stück endet offen, lässt viel Raum für Interpretationen übrig. Ein warm-gelber Luftballon erhebt sich hinter dem Timișana-Palais zum Schluss der Vorstellung – die Sonne (oder der Mond?) geht auf, das Licht der Freiheit leuchtet. Der runde Kreis ist Teil des Kulturhauptstadtlogos. Die Zuschauer dürfen selbst entscheiden, wie es weitergeht. Die Botschaft ist aber schlicht optimistisch: Egal wie viel Böses die Welt erlebt – das Licht leuchtet weiter. Die Sonne geht auch an schlechten Tagen auf und lädt zum Leben ein.