Unterwegs durchs Leben

Ein Obdachloser zeltet am Şaguna-Sportplatz

„Andreas“ hat ganz kurze Haare, „wie ein amerikanischer Soldat“, lächelt er. „Ich werde NATO auf mein Zelt schreiben“.
Foto: die Verfasserin

Es ist Mittwoch, der 17. Januar 2018, kurz vor acht Uhr morgens. In der Oberen Vorstadt reicht der Stau, wie üblich, vom Anger bis zum Katharinentor und bestimmt noch viel weiter. Kinder eilen in die Schule, ihre Eltern in die Arbeit. Es ist kalt, in der Nacht waren Minustemperaturen angesagt. Am Şaguna-Sportplatz liegt etwas Schnee. Am Eck gegenüber vom Katharinentor steht ein kleines, blaues Zelt.

Andrei Samuil hat in der Nacht hier gezeltet und räumt gerade seinen Schlafsack, dann das Zelt zusammen. Danach streckt er die Arme aus, hebt sie hoch und atmet die frische Luft ein – es sieht nach Morgengymnastik aus. Gelassen plaudert er mit einem neugierigen Passanten, dann hebt er den großen Rucksack auf die Schulter und zieht los.

Seit sechs Jahren zieht der stämmige Mann so durchs Leben. Der Staat habe sein Haus genommen, er hatte immense Schulden bei den Lebensunterhaltskosten, keine Arbeitsstelle, keine Familie- niemanden, den ihn unterstützen konnte. Anfangs hatte Andrei nur eine Decke, danach einen Schlafsack mit dem er unter freiem Himmel schlief. Seit rund einem Jahr ist nun das Zelt sein Zuhause.

Der 48-jährige Kronstädter akzeptiert, ein Gespräch mit mir zu führen, mir sein Leben zu erzählen. Ich darf mit ins Restaurant, wo er seinen Kaffee trinkt, gegenüber von der Schwarzen Kirche. Ich will bezahlen, er ist damit einverstanden. Andrei Samuil ist anständig, spricht mich mit der pronominalen Höflichkeitsform an. Ich versuche auch, höflich zu sein und mich nicht sehr weit weg von ihm zu setzen, doch ist sein Geruch gewöhnungsbedürftig. „Andreas“, wie er von sich spricht, hat schmutzige Fingernägel, eine warme Stimme, beantwortet alle Fragen und gibt viele Details zu allem. Manchmal fällt es schwer, die Verbindungen zwischen den Informationen zu machen, ich höre aber gerne zu.

Wien, das Zuhause

Nach dem Tod seiner Eltern und dem Verlust des Hauses, ist er in die Bukowina gezogen, von wo seine Mutter stammte. Dort hat er Tagesjobs gehabt, eine Freundin, auf dessen Mädchen er aufgepasst hat, er hat eine Weile im Kloster gelebt. Eines Tages entschied er sich, seinem Wunsch nachzugehen: Wien. Andrei Samuil ist mehrere Wochen lang zu Fuß bis in die österreichische Hauptstadt gegangen. Dort hat er sich um die Pflege der Pferde von den Fiakern am Stephansplatz gekümmert.

Mit seinem Chef, Martin Bürger, hat er sich bald angefreundet, hat mit ihm im Restaurant gegessen, in dessen Ferienhaus gewohnt, die Schlüssel zu seiner Wohnung gehabt. Dieser habe ihm sogar ein ein elektrisches Fahrrad gekauft, erzählt der Mann. Es war ein schönes Leben. Doch der abgelaufene Personalausweis habe ihn wieder nach Kronstadt gebracht, wo er seit einem Jahr herumstreunt, in der Hoffnung, dass jemand ihm helfen wird, sein Dokument zu erneuern.

Seit fast 2200 Tagen sind die Beine die einzigen Transportmittel des Obdachlosen. Sie haben ihn durch drei europäische Länder gebracht – Rumänien, Ungarn, Österreich. Sie haben Berge, Wiesen, Seen und Flüsse, Großstädte und Dörfer durchquert, Hitze und bittere Kälte erlebt. Seit drei Jahren droht ihnen aber eine schlimme Krankheit. Andrei zeigt mir seine Beine. Wundbrand. Ein schauerlicher Anblick!

Vor drei Jahren hat er den Pferdemist hinter einem Pferd am Stephansplatz in Wien wegwaschen wollen. Das Tier habe sich erschreckt und mit den Hufen in beide Schienbeine gestoßen. In Wien wurde der Rumäne regelmäßig ärztlich behandelt. In Kronstadt pflegt er sich selbst: er wäscht die Wunden mit Wasser, hat Angst, dass die rumänischen Ärzte die Amputation als einzige Variante sehen. Er hofft, den Frühling zu erleben. Und wieder nach Wien zu reisen, zu den „Pferdchen“, zu den freundlichen Leuten von der „Caritas“, die ihn mit allem Nötigen besorgten, zur Ärztin Christina, die ihn 5 Mal operiert hat.


Der Glaube macht ihn stark

Auf seinen Wegen findet der Obdachlose Stärke im Glauben. Die kaputten Beine haben seinen Glauben gestärkt. „Der Liebe Gott und die Heilige Jungfrau sind immer bei mir“, sagt er, sie geben ihm Mut und Kraft. Eine Ikone und zwei kleine Gebetsbücher, die er immer bei sich trägt, gibt er nicht auf. „Wie Jesus Christus in einer Krippe und in einer Höhle schlafen konnte, so kann ich auch unter freiem Himmel schlafen. Es ist schön!“, erklärt Andrei Samuil. „Ich fürchte mich vor nichts“ sagt er, und das, obwohl er in Parks, auf Bänken, im Wald, auf der Wiese übernachtet, wo manchmal Tiere oder andere Obdachlose, Diebe oder Rauschgiftsüchtige vorbeischauen. Um Letztere zu vermeiden, verzichtet er darauf, in die Kantine für Obdachlose, im Bartholomäer Viertel, zu gehen. Er isst lieber, was er von Leuten vor der Kirche bekommt, oder was abends übrig bleibt in Restaurants, wo er Angestellte kennt.

In der Bukowina wollte er Mönch werden, oder Pfarrer, doch ist aus der „einzigen richtigen Chance seines Lebens“, wie er sie nennt, nichts geworden.
 

Der größte Traum

„Eine Familie, ein Kind und ein Häuschen, das würde mich zum glücklichsten Menschen machen!“ sagt der Mann, der gerade gestern, am 24. Januar, 48 Jahre alt geworden ist. „Eine Kuh, ein Schweinchen, Hühner, ein Pferdchen, das ich stark lieben kann...“ müsste es auf seinem Bauernhof auch geben.

Seine Stimme wird leiser, sein Blick ist irgendwo weit weg. Die Frau seiner Träume kann aussehen, wie sie Gott geschaffen hat, sie mag auch hässlich sein, er wird sie schön machen. Wichtig ist ihm, dass sie eine gute Seele hat und arm ist, damit sie sich gemeinsam, langsam, hinaufarbeiten. Und falls er jemals Präsident werden sollte, dann würde er für alle armen Kinder und Obdachlosen einen großen Block bauen lassen, wo diese wohnen können. Bis dahin aber hofft er auf einen erneuerten Personalausweis der ihn „nach Hause“, nach Wien, bringen soll.