Bin ich richtig? Geht es hier nach Seiburg und Leblang? Bereitwillig geben mir Menschen Auskunft, wenn ich das Wagenfester herunterkurbele und frage. In Leblang/Lovnic hilft mir dann ein Schild, das zur evangelischen Kirche zeigt. Nein, nein, den Seiteneingang soll ich nehmen, meint ein Vorübergehender, der mich beobachtet, als ich ins Pfarrhaus will. Er bleibt stehen und überzeugt sich, dass ich auch mein Ziel erreiche: die neuzugezogene Familie aus Deutschland. Seit Ende Juni ist Christiane Schöll, als Pfarrerin von der evangelischen Kirche in Württemberg entsandt, mit Ehemann Michael und Baby Simon hier zu finden. Keine Klingel, keine versperrte Türe: man kann einfach eintreten. Am langen hölzernen Küchentisch trocknet Pfefferminze, dem Gast wird ein starker Kaffee angeboten. „Princeton” lese ich auf der Tasse, und schon sind wir beim Thema.
Beide haben Auslandserfahrung: Christiane war ein Jahr lang als Austauschstudentin in den USA, danach als Praktikantin in einer Einrichtung für die Wiedereingliederung straffällig gewordener Jugendlicher. Das „Dale House Project” war schockierend: Trotz eines exzellenten Programms und großem persönlichem Engagement des Gründers und Mentors war die Erfolgsquote gering, wenn auch deutlich höher als in staatlichen Einrichtungen. Lateinamerika hat sie mit einer Freundin auch schon sechs Monate lang per Rucksack erkundet. Den Aufenthalt hatte sie sich durch wochenlange Arbeit als Gabelstaplerfahrerin bei Daimler finanziert. Sie spricht spanisch und lernt – natürlich – rumänisch. Das hat ihr gleich bei einer den ersten Amtshandlungen Sympathien eingebracht: Sie hatte nämlich in drei Wochen, bei insgesamt 130 zu betreuenden Seelen, schon zwei Begräbnisse zu halten und hat die vielen Anwesenden auch auf rumänisch angesprochen. Jetzt muss nur noch ein Festnetzanschluss her, damit sie noch leichter erreichbar sind. Das Handy liegt auf einem bestimmten Platz am Tisch, sodass es Empfang hat in dieser Gegend, wo man vorläufig von einem Funkloch ins nächste tappt.
Michael kennt Siebenbürgen. Er hat ein Jahr lang in Kronstadt/Braşov studiert und ist dort dem Jugendbachchor in die Arme gelaufen. Freundschaften haben sich da ergeben, die über Jahre hielten. Die jungen Leute aus Kronstadt haben ihn und seine kleine Familie auch sofort in Leblang besucht, sie würden helfen, wann immer es nötig wäre und halten eine intensive Verbindung. Auf dem Sandhaufen hinterm Haus spielen Kronstädter Chor-Kinder selig, wenn ihre Eltern den Ex-Bassisten besuchen. Einmal Bachchormitglied, immer Bachchormitglied! Michael hat sich selbst zum Ziel gesetzt, seine Dissertation in der ersten Hälfte des nächsten Jahres fertigzustellen. Die Versuche an der Uni Heidelberg sind unter Dach und Fach. Er forscht auf dem Gebiet der medizinischen Informatik, in einem Bereich, der die Neurochirurgie weltweit beschäftigt. Die Erkenntnisse, mit aufwendigsten Verfahren gewonnen, werden es vielleicht ermöglichen, das Leben hirngeschädigter Patienten etwas zu verbessern. Michael sieht das auch kritisch: Er kann sich vorstellen, nach der Promotion zum Dr. sc. hum. seine Energie auch ganz anders einzubringen. Warum nicht die medizinische Versorgung am anderen Ende der Skala verbessern? Er spricht von den ländlichen Regionen Rumäniens, wo Frauen den Arzt zum ersten Mal sehen, wenn ein Kind zur Welt kommt. Dabei ereifert er sich nicht.
„Mal sehen”, das ist ein häufiges Wort, das beide benützen. Sie haben ihren gemeinsamen Plan, unbedingt ins Ausland zu gehen, zielstrebig und gegen alle Bedenken in die Tat umgesetzt. Nun sind sie offen. Dankbar sprechen sie von der guten Nachbarschaft zu den beiden Pfarrern des Gebiets. Simon, neun Monate alt, hat mit seinem strahlenden Baby-Charme auch schon Freundschaften geschlossen. Die dreijährige Anita aus der Nachbarschaft hat für ihn die schönsten Faxen gemacht, als er mit Mutter und Vater abends auf der Bank vorm Haus saß. Allabendlich kommt die Herde von der Weide zurück: Kühe, Pferde, Ziegen, Büffel, ein Ereignis für Kinder. Und wie das Brot schmeckt, das die Eltern im Dorfladen kaufen! Den Umzug hat er problemlos verkraftet. „Wir wohnen schön hier”, finden beide Eltern, als wir einen Spaziergang durch Hof und Garten unternehmen. Die Marillen schmecken schon, die anderen Bäume im großen Pfarrgarten sind alt und ungepflegt. Wahrscheinlich werden die beiden im nächsten Jahr Gemüse anbauen, Kartoffeln vielleicht. Der Obstgarten ist verpachtet und wird gemäht. Zum Sklaven der Landwirtschaft wird man sich nicht machen. Mal sehen... In ihrer Freizeit spielen beide auch hier immer wieder Frisbee oder Fußball mit den Dorfkindern. In Deutschland haben sie jahrelang Jugendarbeit gemacht.
Die Kirche ist groß und hell. Christiane, jetzt in Jeans und mit Simon im Arm, kann ich mir gut vorstellen, wie sie in ihrer freundlichen und unaufgeregten Art am Sonntag zur Gemeinde spricht. Die Leute sitzen immer noch wie früher, Frauen hier, Männer da, nur Michael saß beim ersten Gottesdienst neben seiner Ehefrau. Auch kein Malheur! Es gibt manche „Sommersachsen” in Leblang, viel mehr als im Nachbardorf Seiburg/Jibert. Ob Scharosch/Şoarş bei Fogarasch/Fagaraş definitiv mitzubetreuen ist, wird sich in absehbarer Zeit klären. Deutsch-Weißkirch/Viscri gehört jedenfalls zum Sprengel. Und im nächsten Sommer soll da eine Trauung stattfinden. Mal sehen, was noch kommt.... Nachdenklich streicht Michael über den Taufstein. Schade, dass Simon schon getauft ist. Ob es wohl eine Taufe geben wird in Leblang?
Beim Abschied blicke ich in drei blaue Augenpaare. Wir winken uns zu. Oben, auf der Anhöhe hinterm Dorf, bleibe ich stehen. Im Rückspiegel sehe ich Leblang mit seinem großen evangelischen und seinem kleineren orthodoxen Kirchturm. Vor den vielen Schlaglöchern unterwegs nach Fogarasch wurde ich gewarnt. Christiane und Michael kennen sie einzeln, erwischen aber trotzdem immer wieder eines, wie sie lächelnd erzählen. Wären da nicht die Blumenpracht am Wegrand, die endlos hügelige Weite mit Schaf- und Rinderherden als einzige Lebwesen, ich würde mich grün ärgern über so viel menschenverachtende Infrastruktur mitten in Siebenbürgen. So hängen meine Gedanken noch an der jungen Familie, von der ich mich in dieser transsilvanischen Ur-Landschaft immer weiter entferne. Am Weg grüßt bereits eine häßliche Müllhalde, Plastikflaschen und Beutel liegen im Gebüsch, Fogarasch ist in Sicht. Üppige Blumenrabatten grüßen aus ihren chemiegetränkten Arealen. Willkommen in der „zivilisierten” Welt!