Die mit Unterstützung des Künstlerhauses Bethanien Berlin beim Hauptsitz des Nationalen Kunstmuseums MNAR im Königlichen Palast (Calea Victoriei 49-53) gastierende Wanderausstellung „Dissonance – Platform Germany #3“ vereint 75 zeitgenössische Kunstwerke in unterschiedlichen Techniken von 43 internationalen Künstlerinnen und Künstlern unter 50 Jahren, die in Deutschland leben und wirken. Ausgangspunkt der Ausstellung war die Publikation „Dissonanz – Plattform Deutschland“ der Autoren Christoph Tannert und Mark Gisbourne (DVC, Berlin, 2022), die einen Überblick über die unterschiedlichen künstlerischen Ansätze und Strategien gibt, die in den letzten drei Jahrzehnten in Deutschland entstanden sind.
Bei ihrer Untersuchung der zeitgenössischen deutschen Kunstszene stießen die beiden Studienautoren auf eine extreme Pluralität der Formulierungen und Themen in der Malerei. Diese ist heute durch Heterogenität, Selbst- und Identitätsbehauptung gekennzeichnet und geht mit der Entwicklung eines komplexen Bilddiskurses einher, in dem Figuratives, Ab-straktes, Populärkultur, soziale Medien, Fotografie und Techniken aus der Werbung koexistieren.
Die ausstellenden Kunstschaffenden sind in alphabetischer Reihenfolge Aline Alagem, Emmanuel Bornstein, Söntke Campen, Nicolae Com²nescu, Ivana de Vivanco, Annedore Dietze, Zohar Fraiman, Rao Fu, Falk Gernegroß, Oska Gutheil, Simone Haack, Roey Victoria Heifetz, Julius Hofmann, Franziska Holstein, Sebastian Hosu, Malgosia Jankowska, Hortensia Mi Kafchin, Aneta Kajzer, Kanta Kimura, Pia Krajewski, Clemens Krauss, Tegene Kunbi, Jeewi Lee, Inna Levinson, Katsuhiko Matsubara, Monika Michalko, Kazuki Nakahara, Irina Ojovan, Justine Otto, Grit Richter, Tanja Rochelmeyer, Dennis Rudolph, René Schoemakers, Sebastian Schrader, Gustav Sonntag, Aiko Tezuka, Ulrike Theusner, Christian Thoelke, Clemens Tremmel, Angelika J. Trojnarski, Ruprecht von Kaufmann, Paul Wesenberg und Sahar Zukerman.
Christoph Tannert, international renommierter Kurator und Autor, lebt und arbeitet in Berlin. Von 2000 bis 2024 war er Direktor des Kulturzentrums Künstlerhaus Bethanien Berlin und gilt als Kurator dieser Ausstellung. Diese Ausstellung wurde zuerst 2022 im Künstlerhaus Bethanien Berlin veranstaltet und war Anfang 2024 auch in der Stadtgalerie Kiel zu sehen. Seit Ende 2024 wird sie in erweiterter Form auch im Nationalen Kunstmuseum Rumäniens gezeigt.
Absichtliche Disharmonie
Wie der Titel der Ausstellung mittels Übertragung des Begriffs „Dissonanz“ aus der Musiklehre auf den Bereich der bildenden Kunst verrät, wird nicht versucht, die heterogenen Bilder mit den verschiedensten Themen und Ansätzen miteinander zu harmonisieren, sondern sie einfach als Röntgenbild der zeitgenössischen Kunstszene nebeneinander zu präsentieren und somit die Koexistenz und Überschneidung vielfältiger künstlerischer Konzepte im deutschen Raum zu verzeichnen.
Beobachter mögen daher vorerst nicht nach Schönheit oder Ausgeglichenheit suchen, obwohl diese fallweise in einigen Werken vorkommen, denn die Ausstellung ist nicht nach ästhetischen Prinzipien erstellt worden, sondern empfohlen wird, dass eher die kennzeichnende thematische und stilistische Varietät der zusammengebrachten künstlerischen Herangehensweisen geschätzt wird.
Das scheinbare thematische Chaos wird in der Tat in einige Themen eingegliedert, darunter sozial engagierte und sozialkritische Kunst, Dekonstruktion und Uminterpretation klassischer Kunst, Identitätsbehauptung, Eindrücke, Vorstellungen vom Weltende und Paradies u.a.
Dekonstruktion der Kunst und Welt
Gleich am Eingang wird man anscheinend von einer flämischen Genreszene auf einer kleinformatigen Tapisserie, welche einen Festzug mit Waffen und Musikinstrumenten darstellt, empfangen. Beim näheren Betrachten erkennt man, dass dieses kein neuzeitliches Werk ist, sondern ein postmodernes, in dem sich Teile von Textilwerken mit pflanzlichem Dekor mit der Genreszene collageartig, jedoch harmonisch verflechten. Dieses Jacquardgewebe betitelt „Blühende Dunkelheit“ wurde von Aiko Tezuka entworfen und mit bunten Kettenfäden vom TextielMuseum Tilburg in den Niederlanden hergestellt. Die japanische Künstlerin stellt weitere zwei Textilwerke aus, „Gewissheit/Entropie (Indien5)“, dessen pflanzlichen Hintergrund sie in kontrastierendem Pink mit lebensstiftenden und -erhaltenden Atomketten, DNA und Gebärmutterumrissen verflechtet und kreisförmig in der Mitte entwirrt; und „Restaurationsunterricht (Blumenvase3)“ ein ebenfalls in der Mitte entwirrter Souvenir-Stoff aus Florenz. Die klassischen Tapisserien dienen der Künstlerin somit zum Grundsatz und Ausgangspunkt. Diese dekonstruiert und gestaltet sie zu pädagogischen, ästhetischen und höchst dekorativen Kunstwerken mit modernen Motiven um.
Auch der nächste Künstler zerlegt die Welt und reduziert sie auf das Wesentliche in seinen Werken. Die beiden ausgestellten realistischen Malereien von Christian Thoelke fangen jeweils eine Ecke ein, in der Natur und menschliche Wohnanlagen friedlich koexistieren. Ob man hinter dem (Birken-) „Dickicht“ einen Wohnblock oder andersrum vom minimalistischen Hinterhof mit einem Gartenstuhl aus Kunststoff, Betonpflaster und -zaun ein Dickicht erblickt, vermitteln die am hohen Nachmittag eingefangenen Bilder ein Gefühl von Ruhe und Geborgenheit, daher nennt der Künstler das zweitere „Idyll“.
Eschatologische Auseinandersetzung
Einen thematischen Schritt weiter geht Annedore Dietze in ihrer rosigen Vorstellung vom Paradies, die sie mit blühenden Blumen präsentiert. Ein schattiger Schädel im Hintergrund erinnert an den Tod, der nötigen Übergangsetappe zum Paradies.
Bevor das Himmelreich der Menschheit wieder zugänglich wird, muss die Welt, so wie wir sie kennen, doch zuerst untergehen. Den Weltuntergang verkünden die Ritter der Apokalypse nicht nur in der Offenbarung des Apostels Johannes, sondern auch in der gleichnamigen großformatigen Grafik von Ulrike Theusner und im Gemälde mit grellen Blutrot-, Orange-, Rosa- und Blautönen von Söntke Campen betitelt „Die Kinder der Apokalypse“.
Viele haben die Corona-Pandemie als eine apokalyptische Zeit empfunden. Wahrscheinlich da-rauf spielt auch Gustav Sonntag in seinem 2021 geschaffenen Bild „Die Welt, sowie wir sie früher wahrgenommen haben, existiert nicht mehr“ an, in dem er eine Alltagsszene aus einem überfüllten Supermarkt zur Stoßzeit in der Art eines Schablonen-Graffitis mit Acryl- und Gouachefarben auf Leinwand darstellt.
Für jene Menschen die in Armut und Not oder unter Kriegsbedingungen leben, war nicht nur die Coronazeit höllenartig, so ist für sie der graue Alltag. Dafür will uns wohl Emmanuel Bornstein durch sein überraschend farbenfrohes Gemälde „Unterschlupf II“ und die traurigen, ermüdeten Blicke seiner Gestalten sensibilisieren.
Zuversicht, Ästhetik und Lebensfreude
Nicht alle Kunstschaffenden präsentieren sozial engagierte Kunst oder weisen eine düstere Weltauffassung auf. Angelika J. Trojnarski und Katsuhiko Matsubara drücken ihre optimistische Weltauffassung durch bunte impressionistische Bilder aus. Die Grafik der ersteren Künstlerin mit dem Titel „Geflimmer“, gibt mittels Farbflecken in gemischter Technik den Eindruck einer stillen Landschaft mit hohen bewaldeten Felsen und einem tiefen Flusstal, die an traditionelle japanische und chinesische Landschaften erinnert. Das Gemälde von Matsubara heißt „Soraniwa“, das etwa als „Himmelsgarten“ aus dem Japanischen übersetzt wird und lässt Eindrücke von lilafarbenen Blumen, wahrscheinlich Schwertlilien, über einem Wasserspiegel erkennen.
Simone Haack bietet in ihren Gemälden ein nahes Beobachten des langen Haars und der Lichtspiele, die ihr Glänzen über wellenartige rote Strähnen oder blonde Locken werfen.
Hätte man einen Schönheitswettbewerb im Rahmen der Ausstellung organisiert, so hätte wohl das „Stillleben in Rot“ mit Böhmischen Kristallgegenständen und Blumen von Malgosia Jankowska den ersten Preis gewonnen. Auch dieses ist kein klassisches Werk, es wirkt modern durch das Fehlen jeglicher Umrisse, durch die rot-weiß-Kontraste, durch das Vorhandensein eines Papageis im Flug und vielleicht ein wenig orientalisch durch das Füllen des ganzen Raumes mit Gegenständen oder verschiedenen Texturen. Dennoch liegt die Meisterschaft der Künstlerin darin, dass ihre Bildkomposition ausgeglichen ist und überraschenderweise nicht überfüllt wirkt.
Die fröhlichsten und buntesten Werke der Ausstellung müssen wohl zwei abstrakte Gemälde in hellen Farben mit aufgebrachten Textilstreifen auf Leinwand des äthiopischen Künstlers Tegene Kunbi sein, in denen sein afrikanisches Kulturerbe zur Geltung kommt. Eines begleitet die Besucher gleich am Eingang und „Schau und lach!“ schließt die Ausstellung ab.
Besucht werden kann die Wanderausstellung noch bis Ende dieser Woche, dem 23. Februar.