Übermorgen, am 11. Juni, startet die 14. Auflage des Internationalen Festivals für Dokumentarfilm und Menschenrechte „One World Romania“ (OWR) in der rumänischen Hauptstadt. Mehr als 60 kurze und lange, zeitgenössische oder aus Archivmaterial realisierte fiktionale oder Dokumentar-Streifen aus aller Welt werden bis zum 20. Juni in vier Bukarester Kinos, an der Theater- und Filmhochschule „Ion Luca Caragiale“ und in einem Garten ausgestrahlt und danach für eine weitere Woche online gezeigt. Künstler, Mitglieder der Zivilgesellschaft, Soziologen und Journalisten werden gemeinsam mit den Veranstaltern versuchen, eine Diagnose sowie Lösungen zu brennenden Problemen zu finden, um Toleranz, Dialog und Zusammenhalt in der Gesellschaft zu fördern. Über die 14. Auflage des Festivals sprach die französische Filmemacherin Vanina Vignal, neben Andrei Rus eine der beiden künstlerischen Leiter des Festivals, mit ADZ-Redakteurin Laura Căpățână Juller.
Nach vielen Monaten kann das Publikum Filme endlich wieder gemeinsam anschauen und besprechen. Die letztjährige 13. Auflage des Festivals wurde wegen der Coronavirus-Pandemie verschoben und war viel kleiner als geplant. Es war eine große Umstellung. Nichtsdestotrotz: was hat diese Erfahrung Gutes für das Festival gebracht?
Es war sehr schwierig, das Festival zwischen März und August 2020 mehrmals zu verschieben, ständig umzuplanen. Das gesamte Team hat bis August alles ununterbrochen überarbeiten müssen, die Zusammenarbeit mit Partnern, Locations, Gästen usw. Und sobald das Ereignis zu Ende war, haben die Vorbereitungen für diese Edition begonnen. Wir hatten keine Pause.
Das Gute an der Erfahrung vom Vorjahr waren die Outdoor-Ausstrahlungen: Wir haben damals entdeckt, dass sie sehr nett und angenehm sind. Wir hatten bis dahin nicht geglaubt, dass die Qualität der Projektionen unter freiem Himmel so gut sein kann. Außerdem hat uns diese neue Dimension der Stadt total verzaubert: Vogelgezwitscher, Hundegebell und das Rauschen des Windes – wir hatten diese einzigartige Erfahrung nötig. Verde Stop Arena, wo gewöhnlich Konzerte stattfinden, wurde zum „Hauptquartier“ des Festivals, zum Paradies, wo wir Filmausstrahlungen sowie Konzerte und weitere Ereignisse veranstalten konnten. Trotzdem könnten wir das nicht noch einmal so organisieren. Der Aufwand war sehr groß und jeder von uns braucht den Urlaub, der seit zwei Jahren ausgefallen ist.
Jedes Jahr betrifft die Auswahl der Streifen ein umfangreiches Thema zu Menschenrechten. Heuer gilt euer Interesse der Situation von Frauen und den Hindernissen, die ihrer vollständigen Anerkennung im Wege stehen (wie auf der Internetseite des Festivals steht). Warum findet Ihr diesen Aspekt wichtig?
Weil wir Frauen das verdienen. Jedes Jahr zeigen wir Filme von Regisseurinnen, es gibt auch eine Sektion über Frauen. In diesem Jahr allerdings trafen wir die Entscheidung, Frauen und ihre Filme in den Fokus zu rücken. Auch weil Frauen, trotz all ihrer Kämpfe, Leistungen und Errungenschaften im letzten Jahrhundert – ausgehend von der Suffragettenbewegung – weiterhin ungleich behandelt werden. Geschlechterungleichheiten sind in den meisten Gesellschaften weiterhin DIE (nicht mehr versteckte) Regel. Sogar westeuropäische hochrangige weibliche Beamtinnen werden schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen. Entfremdung ist weiterhin an der Tagesordnung.
Deswegen finden wir es wichtig, uns die Zeit zu nehmen, darüber nachzudenken, und zwar nicht nur durch das Anschauen neuer Streifen und der Werke weiblicher Filmpionierinnen wie Ulrike Ottinger, Delphine Seyrig, und der Filmemacherinnen vom Audiovisuellen Zentrum „Simone de Beauvoir“. Sondern auch durch die Teilnahme an den vielfältigen Diskussionen mit zahlreichen weiblichen Gästen aus der Zivilgesellschaft, Politik und der akademischen Welt, die während der 10 Tage vorgesehen sind. Wir werden sogar die Gelegenheit haben, über dieses weitläufige Thema zu meditieren (buchstäblich!), und zwar mit einer Yogalehrerin, Ral Bratu, im Rahmen zweier Yogaklassen im Kretzulescu-Park und online.
Mehr als die Hälfte der Filme im Programm stammen von Filmemacherinnen. Seit Jahrzehnten realisieren Frauen hauptsächlich Dokumentationen. Warum, glaubst du, ist das so?
Da ich keine Soziologin bin, kenne ich keine genaue Antwort. Ich will auch nicht verallgemeinern. Aber ich versuche mögliche Gründe zu finden. Vielleicht liegt es daran, dass der Dokumentarfilm weniger Finanzierung und Anerkennung bekommt als der Spielfilm. Dieses Genre wird leider und fälschlicherweise als minderwertig und nicht kinematografisch angesehen.
Die meisten Männer, die in einer patriarchalen Gesellschaft aufgewachsen sind, wo sie gelernt haben sich einen festen Platz zu sichern, haben den Bereich des Spielfilms „besetzt“ und teilen ihn ungern. Ich kenne sehr viele Regisseure, die ein Projekt ablehnen, wenn es keine Finanzierung dafür gibt. Hingegen nehmen es Filmemacherinnen an, no matter what. Das heißt sie werden ihre Entlohnung opfern, damit der Film entsteht. Das habe ich bei all meinen Filmen gemacht: Ich wurde erst am Ende der Produktionsarbeiten, nach jahrelanger Arbeit, bezahlt.
Wir Frauen können Berge versetzen, aber aus Entfremdung. Wir verlangen unseren Platz (immer noch) nicht. Frauen nehmen niemandem den Platz, sie schleichen sich weiterhin auf die Plätze der Männer.
Vielleicht wäre es besser, die Frage anders anzugehen: Die Welt des Spielfilms ist von Männern dominiert. Sie sind an der Macht. Sie sind diejenigen, die Filmprojekte von Regisseurinnen unterfinanzieren und sie selektieren deren Werke nicht in Festivals. Somit sind deren Filme nicht sichtbar. Es gibt zahlreiche Filme von Frauen, aber sie sind weniger sichtbar als jene ihrer Kollegen – wie das in der Kunstgeschichte immer der Fall war und ist. Und wenn du weniger Referenzen hast, beginnst du da-ran zu zweifeln, dass es möglich ist Filme zu realisieren, kannst ein Gefühl der Selbstzensur und sogar des Betrugs entwickeln.
Ich wünsche mir, dass #meToo helfen wird… mal sehen.
Die Sektion „Ulrike Ottinger – Filme ohne Grenzen“ bietet einen Rückblick über die Arbeit der avantgardistischen deutschen Filmemacherin, Malerin und Fotografin. Ihr neuester Streifen, „Paris Calligrammes“ (2020) wird in der Eröffnung der Festspiele gezeigt. Warum ausgerechnet Ulrike Ottinger?
Ulrike Ottinger ist eine der besten Filmemacherinnen der Welt und aller Zeiten. In Rumänien ist sie aber wenig bekannt, sodass wir es wichtig fanden, zehn ihrer Filme in unser Programm einzuschließen. Auch planen wir in naher Zukunft, mehrere ihrer Werke vor das rumänische Publikum zu bringen, wobei uns das Goethe Institut unterstützt. Wir hoffen damit, das Interesse an ihrer gesamten Filmografie zu wecken.
In ihren Filmen blickt Ottinger immer mit wachem Auge auf Frauen und zeigt sie in einem spektakulären Licht, unabhängig davon, ob sie ihre Kamera auf Kulturen richtet, die ihrer ähnlich oder auch grundsätzlich verschieden sind. Und sie schafft das nicht so sehr durch die Auswahl der Themen, wie durch die tiefgründige Reflexion über die Frauen.
Ihr habt auch die Sektion „Die Frauenkämpfe der letzten vier Jahrzehnte – Fokus Delphine Seyrig und das Zentrum Simone de Beauvoir“. Auch wenn die meisten ausgewählten Streifen in den 1970er Jahren gedreht wurden, erscheinen sie auch heute noch aktuell. Inwieweit können diese Filme eine Inspirationsquelle für die rumänischen Zuschauer des OWR sein?
Das ist für mich als Französin schwer zu sagen, ich kann nicht für rumänische Frauen sprechen. Doch weiß ich, dass diese Filme äußerst modern und humorvoll sind, wie alle guten Filme. Sie sind universell. Von daher wird sie das hiesige Publikum bestimmt sehr wichtig, interessant, inspirierend und witzig finden. Diese Streifen werden in der ganzen Welt ausgestrahlt und überall sehr erfolgreich aufgenommen, genauso wie vor 40 Jahren. Sie sind zeitlos.
„Vergesst nicht, es genügt eine politische, ökonomische oder religiöse Krise – und schon werden die Rechte der Frauen wieder infrage gestellt. Diese Rechte sind niemals gesichert.“ Leider ist diese Aussage von Simone de Beauvoir gerade sehr aktuell. In „Das andere Geschlecht“ von 1949 hat sie Frauen zu Solidarität und Selbst-organisierung aufgerufen. In den 1970er und 1980er Jahren haben Frauenkollektive begonnen, ihre Visionen und Anliegen zu vereinen, um neue Repräsentierungen von Frauen zu schaffen. Sie wehrten sich gegen die Normvorgaben und Diskriminierung von Frauen, schufen ihre eigenen Identitäten. Sie erfanden neue Mittel, um Feminismus, Klassen- und Geschlechterbewusstsein, direkte Demokratie und politische Aktion zu befördern.
Diese Filme müssen in den letzten 50 Jahren einer Großzahl von Menschen geholfen haben: jenen, die sich vor der Kamera geäußert haben, jenen die dahinter standen, sowie dem Publikum. Sie bieten auch Männern Hilfe – jenen, die dank dieser manchmal kämpferischen Kinoproduktionen und der nuancierten Diskurse bewusster geworden sind und sorgsamer daran denken, wie sie vielleicht zu Geschlechterungleichheiten in der Gesellschaft beitragen. Alle diese Frauen und ihr Erbe sind eine Inspirationsquelle für uns.
Filme vom Audiovisuellen Zentrum „Simone de Beauvoir“ auszuwählen, ist ein großartiger Weg zu uns selbst (als Frauen, wie auch als Männer, zumal unsere Schicksale eng miteinander verbunden sind), eine Brise der Freiheit, ein Weg zur Befreiung (oder zumindest eine Annäherung daran).
Seit zwei Jahren werden auch Spielfilme beim OWR gezeigt. Was hat dazu geführt?
Spielfilme sind Teil einiger OWR-Rückblicke von Filmemachern, die sowohl Fiktion wie auch Dokumentarfilm gemacht haben. Um den künstlerischen Weg eines Künstlers verstehen zu können, ist es notwendig, seine Werke zu sehen und sich damit auseinanderzusetzen, egal zu welchem Genre sie gehören.
Zu „One World Romania“ gehört neben den Festivals auch der internationale Vertrieb von Dokumentationen „KineDok“, das Filmrestaurations-Programm „Sahia Vintage“, oder auch die Förderung von Filmprojekten. In den letzten Jahren ist eine Gemeinschaft von Filmliebhabern entstanden, die an Dokumentarfilm interessiert ist. Wie siehst du diese Gemeinschaft?
Diese Gemeinschaft besteht aus Filmemachern und Zuschauern, die etwas anderes sehen wollen als die üblichen TV-Programme und die den Wunsch haben als Zuschauer aktiv zu sein, nicht passiv zu bleiben.
Welche Filme und Ereignisse sollten die Zuschauer auf keinen Fall verpassen?
Ulrike Ottingers Filme und jene, in denen Delphine Seyrig auftritt, sowie auch die Auswahl von Filmen vom Zentrum „Simone de Beauvoir“ sollte man unbedingt sehen. Die Koordinatorin des Zentrums, Nicole Fernández Ferrer, wird in Bukarest über die Geschichte der feministischen Videokunst ab den 1970er Jahren sprechen. Das sollte man sich auch nicht entgehen lassen (am 19. Juni, 17 Uhr, im „Elvire Popesco“-Kino oder online auf Cinepub.ro). Der deutsche Film „Purple Sea“ von Amel Alzakout und Khaled Abdulwahed ist auch ein Must-see.
Was ich noch empfehle, ist die Analyse der Methoden, die einheimische Film- und Theaterindustrie, aus Geschlechterperspektive, zugänglicher und sichererer zu gestalten. Wenn man bedenkt, dass heutzutage diese Ungerechtigkeit weiterhin besteht... (am 20. Juni, UNATC, und online auf Cinepub.ro)
Nach dem Festival können alle Filme eine Woche lang auch on-line gesehen werden.
Herzlichen Dank für das Gespräch.