Am Abend des 8. April war im Kronstädter Kulturzentrum Redoute ein besonderes theatralisches Ereignis zu erleben. Das im Jahre 2006 von der Kronstädter Germanistin, Schriftstellerin und Bühnenkünstlerin Carmen Elisabeth Puchianu ins Leben gerufene deutschsprachige Studierendenensemble DIE GRUPPE feierte sein zehnjähriges Bestehen mit der Uraufführung des Theaterstücks “Orpheus und Eurydike tanzen in der Unterwelt. Das Finale“. Diese Jubiläumspremiere ist bereits die dritte Beschäftigung Carmen Elisabeth Puchianus als Autorin, Regisseurin und GRUPPE-Schauspielerin mit dem Mythos von Orpheus und Eurydike. Nach „Orpheus und Eurydike reloaded“ im Jahre 2014 folgte im Jahr darauf „Orpheus und Eurydike tanzen in der Unterwelt“ und nun als jüngste Bühnenversion des antiken Stoffes „Das Finale“.
Das Kronstädter deutschsprachige Studierendenensemble DIE GRUPPE kann im Rahmen seiner zehnjährigen Geschichte auf eine beachtliche Folge von Theaterinszenierungen zurückblicken. Die Aufführungsreihe, selbstredend mit ständig wechselndem Schauspielerpersonal, begann mit Improvisationen zu Samuel Becketts „Warten auf Godot“, setzte sich fort mit einer szenischen Collage aus verschiedenen Prosatexten von Franz Kafka unter dem Gesamttitel „Die Verwandlung“, wurde weitergeführt mit einer Adaption von Georg Büchners Komödie „Leonce und Lena“, der DIE GRUPPE den Titel „Lena und Lena“ verlieh, und gipfelt in den drei genannten theatralischen Versionen des in Ovids „Metamorphosen“ überlieferten antiken Mythos von Orpheus und Eurydike.
Carmen Elisabeth Puchianu verfolgt mit dem von ihr gegründeten Ensemble DIE GRUPPE gleich mehrere Ziele. Neben der Vermittlung literarischer Horizonte von der Antike bis zur Postmoderne ist es ihr ein Anliegen, sprachdidaktisch und sprecherzieherisch zu wirken, die Arbeit an Texten gemeinsam mit den Studierenden praktisch zu vollziehen und Anstöße für einen eigenen kreativen Umgang mit Literatur zu geben. Die Lust am Sprachspiel, das genussvolle Aussprechen einzelner Worte und Phrasen, die beständige Suche nach dem treffenden Ausdruck bringen dabei avantgardistische und postmoderne Kunstbestrebungen in einen verblüffenden Einklang mit den basalen Grundsätzen des Sprachunterrichts bei der Bildung von Wörtern und Sätzen. Gemäß der Devise „lingua sana in corpore sano“ verfolgt Carmen Elisabeth Puchianu in ihrer Theaterarbeit mit Studierenden einen ganzheitlichen Ansatz, bei dem auf der Bühne nicht nur der Mund als isolierter Körperteil auf und zu geht, sondern der ganze Körper mimisch, gestisch und tänzerisch in Bewegung gerät. Im gemeinsamen Agieren auf der Bühne lernen und erfahren die Studierenden nicht nur sprachliche und soziale Interaktion, sondern auch, zumal es sich hier um fremdsprachliche Interaktion handelt, interkulturelle Kommunikation.
Es versteht sich von selbst, dass Carmen Elisabeth Puchianu sich bei ihrer inszenatorischen Arbeit mit den Studierenden moderner Theaterformen bedient. Aus Körper- und Sprechtheater, aus Schattenspiel und Pantomime, aus Tanz- und Improvisationstheater formt sie immer wieder neue Bühnenstücke, die sich, jenseits des sprachlichen und literarischen Kontextes, insbesondere der Traditionen des Ausdruckstanzes (Mary Wigman), des Modern Dance (Isadora Duncan), des Butoh (Kazuo Ono) und des zeitgenössischen Tanztheaters (Pina Bausch) bedienen. Zusätzlich kommt in Carmen Elisabeth Puchianus Bühnenkunst auch mediale Technik zum Einsatz. So konnte man in der Jubiläumspremiere des Stückes “Orpheus und Eurydike tanzen in der Unterwelt. Das Finale“ als zentrales Element des Bühnenbildes eine Leinwand wahrnehmen, auf der während des gesamten Stückes eine Videoprojektion ablief, die zugleich eine wichtige Lichtquelle für das Bühnengeschehen abgab und außerdem Gelegenheit zu Schattenspielen bot. Ergänzt wurde dieser permanente Beleuchtungsvorgang durch diverse, vom sogenannten Lichtmann (Marcel Vl²d²reanu), der gelegentlich ins dramatische Geschehen als Stimme aus dem Off mit einbezogen wurde, dirigierte Spotlights.
Der Einsatz von Videoprojektionen (Ton- und Videoschnitt: Larisa Pioaru) hatte natürlich auch einen Bezug zum mythologischen Inhalt des Stückes, denn der Videofilm repräsentierte die Unterwelt, der Eurydike entfliehen möchte, indem sie versucht, in die Oberwelt, auf die Bühne des Lebens, zurückzukehren. Und dieser Moment trat dann auch tatsächlich ein. Während man auf dem Video einen virtuellen Plastikfolienknäuel herabschweben sah, schwebte zeitgleich aus den Kulissen von oben ein realer Plastikfolienknäuel auf die Bühne herab, und in diesem Augenblick betrat die zuvor nur per Videoprojektion sichtbare Eurydike als reale Person die Szene und setzte die Interaktion mit Orpheus, die vorher nur in virtuell-realer Simultaneität vor sich gegangen war, in leibhaftiger Zweisamkeit fort.
Die Arbeit der studentischen Schauspielerinnen und Schauspieler bei dieser Produktion verdient, von der tragenden Rolle Carmen Elisabeth Puchianus ganz zu schweigen, höchste Anerkennung.
Vor allem M²d²lina Matei in der Rolle der Eurydike glänzte durch ihre ausdruckstänzerischen Leistungen im Video und durch ihre erotische Begegnung mit dem Schaumstoffquader, wobei man nicht wusste, ob sie sich dabei in ihren Geliebten Orpheus oder in einen Sarkophag hineinwühlen wollte, den das Schicksal der mythischen Gestalt beschieden hatte. Auch Alexandra Greavu bestach durch ihre Souveränität bei der Verkörperung des Zweiten Handlangers der Unterwelt, zumal sie die schwere Aufgabe hatte, gegen die Hauptakteurin Carmen Elisabeth Puchianu anzuspielen, was sie aber mit Bravour absolvierte, zumal diese als Erste Handlangerin der Unterwelt gelegentlich die Bühne verließ, um über Stuhlreihen hinweg zu steigen, mit den Zuschauern zu interagieren und so echtes Publikumstheater zu praktizieren. Der einzige Mann auf der Bühne, Krisztián Attila Pán als Orpheus, wirkte schon allein durch seine physische Präsenz – mancher antike Ephebe wäre neidisch geworden – und durch seine tänzerischen Begegnungen mit Eurydike, der es als schmächtiger Gestalt sogar gelang, dieses kolossale Mannsbild sich auf den Rücken zu packen.
Ansonsten flogen Pufuleţi (Maisflips) durch die Szene, mit Schaufeln geworfene Erde prasselte auf den Bühnenboden, Akteure wurden aus Plastikbahnen entrollt und wieder in dieselben eingerollt, es wurde geschminkt und getanzt, geschrieben und gesprochen, und immer wieder ertönte das sprachliche Leitmotiv „ach so“ als Symbol permanenten Umdenkens und Neuverstehens. Unter den von Carmen Elisabeth Puchianu gemeinhin bevorzugten Requisiten vermisste man bei dieser Aufführung vor allem die Leiter und den roten Strick, wobei letzterer als Ariadnefaden für einen fakultativ in Erscheinung tretenden Hermes Psychopompos durchaus eine Rolle hätte spielen können. Dafür gab es aber einen blauen Strahl: An diesem konnte man unter dem Videobild jeweils ablesen, wie weit die Projektion auf der Zeitachse gediehen war und wie lange das Theaterstück noch dauern würde. Als der blaue Strahl schließlich die rechte Seite der Leinwand erreicht hatte, als die Lichter erloschen, als Schauspieler und Schaufeln ruhten, als Schweigen und Schwärze die Bühne dominierte, war die Zeit für den Applaus gekommen, den das zahlreiche Publikum den Akteuren der GRUPPE in der Kronstädter Redoute gerne und ausgiebig spendete.