Anlass dieses Beitrages waren die Reparaturen am Dach der Schwarzen Kirche in Kronstadt. Diese führten notgedrungen dazu, dass die Reiseführer, die ihre Gruppen um den Kirchenbau führten, nun einen besonderen Standpunkt suchen mussten, um über die Gestalt des „Gesellen“ am Kopf einer der Säulen des Langhauses „ihre Geschichte“ zu erzählen. Die Anführungszeichen im vorangegangen Satz haben ihren guten Grund, denn so viele Reiseführer – so viele Geschichten. Dabei sind einige wenige sehr weit entfernt von der eigentlich sehr knappen Legende, die dreimal in verschiedenen Bänden erschienen ist. Und um dem Leser zwei Kostproben dieser Eigenfassungen zu geben: der Geselle stamme aus der Oberen Vorstadt, aus einer Familie von Steinmetzen, mit Namen und Verwandten – eine Variante ohne jeglichem Nachweis. Oder eine echte Begebenheit bei der wir die Namen lieber nicht nennen: eine schriftliche Anfrage wurde an das Archiv der Schwarzen Kirche gerichtet, mit der Bitte eine Abschrift des Totenscheines des Gesellen zu erstellen, von dem der Antragsteller Jahr und Tag des Absturzes zu wissen behauptete. Die besänftigende Antwort war, dass das Archiv – leider – nicht so weit zurückreiche.
Denn die in Stein gemeißelte Gestalt soll laut Sage einen besonders tüchtigen Gesellen darstellen, welcher von eben dieser Säule gestützt wurde und zwar von seinem neidischen Meister. In dieser Version ist die Legende auch in ihrer ersten gedruckten Form vom Schäßburger Gymnasiallehrer Friedrich Müller, in „Siebenbürgische Sagen“ (1857 bei Johann Gött in Kronstadt) erschienen. Diese Version ist auch die einzige, in welcher der Geselle nicht hinabgestoßen, sondern an dem Lotseil herabgezogen wird. Der Titel derselben Sage in dem Band „Die Steinernen Blumen - Burzenländer Sagen und Ortsgeschichten“ von Claus Stephani (Ion Creang˛ Verlag, Bukarest 1977) lautet „Brotneid“, genau wie der Grund für den Mord in der Ausgabe von 1857 und endet mit hinabstoßen und nicht ziehen.
In dem Vorwort des Bandes (Quelle: http://members.aon.at/fresh/sagen/) macht Claus Stephani folgende Bemerkung: „Sagen sind meist kurze Erzählungen aus dem Volk. Jahrhunderte hindurch wurden sie mündlich von Generation zu Generation weitergereicht, bis jemand sie aufzeichnete und in einem Buch veröffentlichte. In einer Sage werden geschichtliche Ereignisse oft fantastisch ausgeschmückt; man nimmt es mit der Wahrheit und Wirklichkeit nicht immer so genau. Trotzdem finden wir in jeder Sage eine genaue Angabe des Ortes, wo sich etwas ereignet hat; und es ist ganz anders als im Märchen, wo alles auf freier Erfindung beruht – die meisten Menschen, von denen in Sagen berichtet wird, haben tatsächlich gelebt. Sicher war nun nicht alles so, wie man es heute erzählt. Im Laufe der Zeit wurde manches weggelassen, anderes hinzugefügt, jede Generation gab das, was sie hörte, leicht verändert weiter.“ Ob diese Formulierung sich auf unsere Sage bezieht, ist nebensächlich, doch sie trifft auf die dritte schriftliche Fassung zu, und zwar die „Burzenländer Sagen und Ortsgeschichten“, von Friedrich Reimesch. In ihrer ersten Auflage, vor 1900, waren sie um den Untertitel „Zur Förderung der Heimatliebe und der Leselust“ ergänzt, danach in mehreren Auflagen nur ohne diesen Untertitel, die letzte, fünfte, 1985 als „Zeidner Denkwürdigkeiten“, Erlangen. In diesem Band erschien nämlich eine literarische Form der Sage, erweitert um die namentliche Erwähnung des Stadtpfarrers Thomas Sander mit Einzelheiten, durch welche sie ausgeschmückt, aber nicht verändert wurde.
Was zeigen nun die Reiseführer ihren Gruppen, wenn sie die Kurzfassung der Sage erzählen? Eine Statue, welche zwischen 1983 und 1985 in Auftrag angefertigt und aufgebaut wurde und deren Geschichte Tatsache und nicht Sage ist. Angefertigt wurde sie, weil das vorherige Exemplar stark verwittert war, übrigens genauso wie die anderen Statuen, die sich daneben befanden: eine kniende Frau, ein Löwe und ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln, die mehrere Jahre für einen Ritter mit zwei Schilden gehalten wurden. All diese wurden im Zuge der Dachreparaturen abgenommen und befinden sich heute im Inneren der Kirche. 1983 stellte der damals in Hermannstadt lebende, freischaffende Bildhauer Kurtfritz Handel (1941-2016) die Marienstatue an der Ostseite des Chores auf einem Stützpfeiler stehend fertig. Danach übernahm er auch den Auftrag für den Gesellen und vollendete das Werk bis zu seiner Auswanderung 1985. Nach anderen bekannten deutschen Künstlern war Kurtfritz Handel als Bildhauer für die Kunstgießerei Ernst Strassacker seit dem Jahr 2000 verantwortlich für die Gestaltung des begehrten Burda- Preises „Bambi“. Für Kronstadt, für die Schwarze Kirche hinterließ Kurtfritz Handel zwei Statuen, von denen die des Gesellen täglich mehrmals fotografiert wird, diesen Herbst allerdings nur von einem Standort aus.