Ich wusste, dass es spät war, schon bevor ich einen Blick auf meine Armbanduhr warf. Freunde hatten mich dazu überredet, bei einer Weinverkostung in einem kleinen Lokal im Stadtzentrum mitzumachen und obwohl ich grundsätzlich nur am Wochenende ausgehe, hatte ich trotzdem zugesagt. Es war schon fast 23 h als ich mich entschied, endlich zu gehen.
Die Wahrscheinlichkeit eines hohen Alkoholkonsums im Auge behaltend war ich einfach zu Fuß gekommen, hatte aber nicht an den Nachhauseweg gedacht.
Nach kurzem Zögern entschied ich mich gegen ein Taxi und ging dafür die paar Schritte durch die Kälte bis zur Bushaltestelle. Die Anzeigetafel signalisierte 44 Minuten, bis der Bus kommen würde, der mich direkt nach Hause brachte. Definitiv zu lange. Also stieg ich in den ersten Bus ein, der nicht mal fünf Minuten später kam. Tatsächlich würde ich von der Haltestelle bis zu meiner Wohnung zu Fuß laufen müssen, ein Gedanke, der mir gar nicht gefiel. Es war zwar keine lange Strecke, nur eine einzige, enge Straße, nicht mal ein 15-Minuten-Fussweg, aber mir war die Gegend unheimlich.
Ich stieg zögerlich aus. Gleich an der Ecke sah ich drei Männer, alle mit dunklen Kapuzenjacken. Der eine saß ganz einfach auf dem Gehsteig, die anderen zwei versuchten, sich an der Hauswand zu stützen. Von einem ihrer Handys lief Musik. Sie waren offenbar betrunken, denn alle lachten und trällerten laut vor sich hin. Auf dem Boden lagen mehr umgeworfene leere Flaschen, als ich in dem kurzen Moment zählen konnte.
Als ich an ihnen vorbeiging und an der Ampel auf Grün wartete, begann einer der Männer zu pfeifen, während die anderen nach mir riefen „He, Püppchen, komm doch mal her.“ Rasch überquerte ich die Straße und drehte mich kurz um, nur um mich zu vergewissern, dass die Männer mir nicht gefolgt waren. Sie hatten sich nicht von der Stelle gerührt und lachten berauscht weiter.
Ich sah die Straße entlang. Dunkel, wie immer. Die Straßenlaternen auf der linken Seite leuchteten nach einem heftigen Sturm im Sommer gar nicht mehr, auf der rechten Seite leuchtete dagegen nur jede Zweite. Zum wiederholten Male in den letzten 30 Minuten bereute ich es, mir keine Mütze aufgesetzt zu haben. Es war eiskalt. Ich zog meinen weichen Kaschmirschal noch enger um mich und versuchte, irgendwie meine Ohren darin zu vergraben. Die Hände hatte ich tief in die Manteltaschen gesteckt, Handschuhe hatte ich natürlich auch keine.
Direkt vor mir war ein dunkler Lastwagen geparkt, halb auf dem Gehsteig, halb auf der Fahrbahn. Die Warnungen meiner Eltern, die ich mir als Kind ständig anhören musste, hallten in meinem Kopf: „Halte dich fern von großen dunklen Autos, du weißt nie, wer darin sitzt. So wurden schon viele Kinder entführt.“
So ein Quatsch, dachte ich und nahm mir vor, mich mehr darum zu bemühen, unnötige Ängste loszuwerden. Trotzdem machte ich einen großen Bogen um den Wagen, sicher ist sicher, oder? Und während ich halb amüsiert vor mich hin schmunzelte, hörte ich es, ein Rauschen. Eigentlich weiß ich überhaupt nicht, ob ich tatsächlich etwas hörte, oder ob sich nur mein Bauchgefühl eingeschaltet hatte, aber ich drehte meinen Kopf ganz vorsichtig nach rechts.
Zwei Männer waren wie aus dem nirgendwo erschienen, zehn Meter hinter mir, schwarze Jacken, Baseballmützen auf dem Kopf. Ob sie mir folgten oder nur zufällig in die gleiche Richtung gingen wie ich, wusste ich nicht. Ich verlangsamte mein Schritttempo, die beiden Männer schienen fast zeitgleich sich meinem Tempo anzupassen, der Abstand zwischen uns immer gleichbleibend. Am liebsten wäre ich losgerannt, aber ich wusste, dass das ein Fehler sein würde, gleich aus mehreren Gründen: ich hatte Stiefel mit Absätzen an, darin konnte man unmöglich rennen, aber auch ohne Stiefel hätte ich wohl kaum eine Chance gehabt, zwei Typen zu entwischen, die gefühlt zweimal größer als ich zu sein schienen.
Also zwang ich mich dazu, ganz normal weiterzugehen. In der rechten Jackentasche ertastete ich mein Handy und ich dachte eine Zehntelsekunde lang darüber nach, es einfach rauszunehmen und so zu tun, als ob ich telefonieren würde. Dann erinnerte ich mich an eine Freundin, die mir erzählt hatte, dass sie in einer ähnlichen Situation genauso gehandelt hatte und schließlich Opfer dreier Diebe wurde, die sie zu Boden stießen und ihr Handy klauten. Unauffällig durchwühlte ich meine linke Jackentasche. Meine Hausschlüssel waren da. Ich konnte mich an eine Reportage im Fernsehen erinnern, in welcher berichtet wurde, wie man sich im Falle eines Angriffs selbst verteidigen konnte. Schlüssel erschienen sicherlich in dem Kontext, nur wusste ich nicht mehr, ob sie tatsächlich hilfreich waren oder man davon abgeraten hatte, sie zur Selbstverteidigung zu benutzen.
An jeder Straßenecke hoffte ich mittlerweile, die Männer würden abbiegen oder in eines der dunklen Häuser verschwinden. Ihre Schritte schienen näher zu kommen, das Rascheln ihrer Jacken konnte ich ganz klar wahrnehmen, die Schatten ihrer Silhouetten erschienen in meinem rechten Blickwinkel, auch ohne dass ich den Kopf umdrehen musste. Ich atmete tief ein und hielt die Luft an. So, wie man die Luft anhält, wenn man sich den Ellbogen an der Tischkante stößt oder den Finger an der Pfanne verbrennt. Man hält die Luft an, weil man den Eindruck hat, so den Schmerz besser zu verkraften. Wenn man ausatmet, ist alles viel weniger schlimm. Falsch. Ich atmete aus, die Männer waren immer noch hinter mir.
Das Gefühl, das in mir hochkam, erkannte ich gleich. Es war Angst, aber keine vertraute Angst. Die Angst, die ich von früher kannte, war anders. Angst vor einer Prüfung, Angst, wenn man beim Zahnarzt im Wartezimmer sitzt. Diese Angst war anders, sie fühlte sich so greifbar an. Mein Herz raste, und ich fühlte das abscheuliche, beklemmende Gefühl in meiner Brust. In meinen Ohren rauschte es, es fühlte sich an, als ob mein ganzer Kopf in Watte eingepackt wäre, gleichzeitig aber kam es mir so vor, als ob ich mich und mein Umfeld doch ganz scharf wahrnehmen konnte. Ich war da und war auch nicht da.
Ich hatte schon immer eine lebhafte Fantasie gehabt, nun war es das erste Mal, dass diese mir nicht zur Hilfe kam. Ein Teil meines Gehirns schien gegen mich zu arbeiten, denn ich konnte mich plötzlich an all die Geschichten und Reportagen erinnern, die ich im Laufe der Jahre über Frauen gelesen hatte, die sich nachts allein im Dunkeln in verlassenen Gegenden wiederfanden. Ich konnte in meinem Kopf die Bilder sehen, Bilder von dunklen Gassen, ähnlich der, durch die ich gerade ging, Bilder von verlorenen Handtaschen und zerrissenen Mänteln. Man denkt immer, sowas passiert nur im Fernsehen. Das sind doch nur Filme. Journalisten übertreiben die Geschichten, um sie besser zu verkaufen. Aber man kennt nie jemanden, dem es mal passiert ist. Und man lebt mit der Selbstverständlichkeit, dass es einem selbst ja nie passieren kann - man ist doch vorsichtig!
Die Männer wussten, dass ich sie hören konnte, denn nun hatte einer angefangen, leise vor sich hin zu pfeifen, während der andere lachte. Ein wildes, unnatürliches Lachen. Es waren nur noch ein paar Meter, bis ich in die Straße einbiegen konnte, in welcher meine Wohnung war. Das höhnische Lachen schien immer näher zu kommen und noch ehe ich bewusst eine Entscheidung treffen konnte, fing ich einfach an zu rennen, als ob meine Beine ein eigenes Leben entwickelt hätten. Und plötzlich hörte ich meinen Namen und jemand packte mich von links am Arm und zog mich heftig zu sich. Bevor ich überhaupt daran denken konnte, dass alles aus ist, erkannte ich das besorgte Gesicht meines Nachbarn, atmete erleichtert auf und befahl mir, ihm nicht in die Arme zu fallen. Er war anscheinend selbst auf dem Nachhauseweg, allerdings aus der entgegengesetzten Richtung und hatte erkannt, dass ich mich in einer gefährlichen Lage befand, auch wenn ich ihm nicht gleich als seine Nachbarin aufgefallen war.
Ich drehte nochmals den Kopf um. Die zwei Männer gingen an uns vorbei. Der eine hatte mit dem Pfeifen noch nicht aufgehört, aber der andere starrte mich noch immer mit den Augen eines Wahnsinnigen an und wendete den Blick nicht von mir ab.
Die Autorin ist Mitglied des Literaturkreises „Stafette” aus Temeswar.