Zum Anlass des Welttags der Poesie lud Erwin Josef Țigla die europaweit verstreuten rumäniendeutschen Autoren dazu auf, sich an diesem besonderen Aktionstag zu beteiligen. Dies im Rahmen eines Projekts der Karasch-Severiner Kreisbibliothek, des DFBB und des Reschitzaer Kultur- und Erwachsenenbildungsvereins. Gemäß eines Beschlusses der UNESCO wird der Welttag der Poesie jährlich seit dem Jahr 2000 am 21. März mit verschiedenen Kulturveranstaltungen begangen, in deren Mittelpunkt die Poesie steht. Der Aktionstag soll an “die Vielfalt des Kulturguts Sprache und an die Bedeutung mündlicher Traditionen erinnern“. Im19.Jahrhundert seien, erinnert der deutsche Literaturwissenschaftler Nikolaus Immer, gar 20.000 Lyriksammlungen allein im deutschsprachigen Raum (eine heute wahrlich utopisch anmutende Zahl) veröffentlicht worden. Die Poesie lebt, trotz allem, es wird weiterhin gedichtet und Gedichte werden veröffentlicht: Mit diesem Aktionstag soll auch gezeigt werden, dass die Poesie selbst im Internet-Zeitalter ihren Platz im kulturellen und sozialen Leben der Menschen einnehmen kann und muss. Hier das schöne Ergebnis, nach dem Aufruf des Reschitzaer Autors:
Lucian M. Vărșăndan (Temeswar)
das land am ende der welt
das land am ende der welt
ist nicht mein land
zwar sprechen wir die gleiche sprache
aber seine verwinkelten straßen
sind mir fremd
und führen meine schritte
ins leere
das land am ende der welt
und ich
wir atmen wohl die gleiche luft
doch nicht im gleichen atemzug
Horst Samson (Neuberg, Deutschland)
Imaginäre Stunde
„Wir schälen die Zeit aus den Nüssen“
Paul Celan ,“Corona“
Unschuldig
Blicken wir auf
Das wechselhafte Meer
Aus Spiegel
Und Himmel. Der steckt
Voller Bilder
Die sich verdunkeln
Inder Erinnerung
Gott ruft
Die Seelen zurück
Aus den Wolken
Rieselt Asche
Verlorener
Gewissheiten
Verbrannter
Sehnsüchte nach Leben
Vor dem Tod
Der Herbst
Macht sehend.
Er lehrt uns an Blättern
Die Zeit. Wir beugen uns tief
Über Nüsse. (2019)
Bianca Barbu (Temeswar)
Alle anderen Söhne
Gingen verloren
Sie irrten durch die Welt
Sammelten Erfahrungen
Und kamen zurück auf eigeneWeise
Als Punkt
Ausrufezeichen
Komma
Oder Gedankenstrich
Ein Sohn blieb unverloren
Wollte nicht irren
Hatte schon genug erfahren
Und dennoch wuchs in ihm
Unmerklich
Das Fragezeichen
Dagmar Dusil (Bamberg, Deutschland)
Es sind doch nur Zeitfragmente
die wie Flüsse durch meine Adern fließen
und die schweren Erinnerungen ans Ufer
des Vollmondes spülen
abgelaufene Erlebnisse halten sich
an der Iris meiner Augen fest
ich schöpfe noch eine Kelle Zeit
bevor die Brunnen versiegen
Edith Ottschofski (Berlin, Deutschland)
petite liberté
der blick geradeaus
die haare streng gekämmt
der pferdeschwanz zurechtgestutzt
die haare nachgefärbt
die bluse glatgebügelt
die jacke knitterfrei
der auftritt tadellos
die arbeit ist da sziel
die akten im büro
sie stehen schon bereit
der pc wartet schon
und auch das telefon
die tasche auf ihrem platz
unten neben dem sitz
die jeanshose ist nur
an beiden knien eingeritzt
petite liberté
Hellmut Seiler (Backnang, Deutschland)
Wintergarten im März
Überschlagt eure Vorräte, legt auch
keine mehr an! Und die Versprechen,
die mehrfach gebrochenen, löst sie ein!
Windstöße lassen Blüten scheppern, schief
hängen die Fensterläden in den Angeln.
Die knatternden Leintücher aus den Mangeln
haben das Gespenstgeweckt, das darunter schlief.
Die Geduldsfäden reißen, wenn auch spät.
Gerätschaften geht die ohnehin knappe Luft aus.
Krähen und Sperber streichen ums Haus,
eure Habseligkeiten sind längst erspäht.
Es wird Zeit, die Vorräte zu überschlagen
und die Versprechen einzulösen.
Ilse Hehn( Ulm, Deutschland)
Hospiz „Hotel-Dieu“/ Beaune
(Burgund, August 2003)
Nach allem greift der vibrierende Sonnendynamo,
Menschenmasse rinnt als Gallert durch die Straßen.
Der hintere Eingang der Häuser ist oft der menschlichere-
Dieser ist zwar verboten, doch offen im schattigen
Hospizpark, fern der Betriebsamkeit abgenutzten Lächelns,
in der Tasche den einzig gültigen Pass Leben,
sprechen Greisinnen miteinander in der grünen Kühle, lesen die gekreuzten Finger, erinnern sich an du, an wir,
ein Lächeln liegt über ihnen, Leichtigkeit –
Ahnung in mir von dem wirksamsten Schmerzmittel:
Menschliche Zuwendung.
Vergessen die hohen Worte, kühl und
Zugig wie Triumphbögen;
Es gibt Sekunden am Tag, da
Halten wir den Traum wie eine lila
Malvenblüte in der Hand, ahnen
Wie weit die Gärten sind hinter unserer Stirn,
Gärten mit dem
Duft von Jerusalem, von Grasse, Florenz.
Die Gedanken gehen so leicht an
an diesem Ort unter dem
Dach mit Ziegeln wie bunte Vögel, anzulocken
mit dem Leuchten der Augen, dem
Pulsschlag des Herzens, all die Teilnahmslosigkeit
Der Welt, so scheint es, löst sich auf,
hier an diesem farbfrohen Rand des Kruges Himmel,
gestülpt über uns.
Ich gehe ins Haus mit dem
Namen „Hotel Gottes“, reihe mich ein in
den Besucherstrom, werde geschleust durch den
mittelalterlichen „Palast für die Armen“.
Ein Faltblatt informiert:
„Mit Ausnahme eines Altersheimes ist seine Tätigkeit
in ein anderes Krankenhaus verlegt worden;
als Bewirtschafter der 61 ha Weinberge,
welche im Laufe der Jahrhunderte geerbt wurden, organisiert
das Hospital jedes Jahr die berühmteste Weinversteigerung
unserer Zeit“.
Gleich hinter der Tür die Auferstehenden
des Rogier von der Weyden, niemandes Gefolge,
sie legen das Leben an, ihre ausgeblichenen Leiber
vom Lärm übermalt
Krämer verstellen die Waage
Gott schreibt in den Wind.
Ists nicht eine schöne Welt?
*Das Hospiz „Hotel Dieu“ wurde 1443 von Kanzler Nicolas Rolin gegründet, für die “Ärmsten der Armen“.