Ihre Augen blicken durch die Besucherin hindurch, ab und zu entsteht Blickkontakt und der Schein eines Lächelns umspielt ihre Lippen. Nur Haut und Knochen ist die ehemalige Angestellte der Strumpffabrik, am Kopf hat sie mehrere kahle Stellen. Mit leiser Stimme beantwortet die Frau mit großen braunen Augen die Fragen der Schwester. Wie sie denn geschlafen habe, will die Krankenschwester von ihr wissen. Nicht sehr gut, flüstert die Kranke und verzerrt ihr Gesicht, wie wenn ein bohrender Schmerz gerade durch all ihre Glieder gezogen wäre. Lucica ist knapp über 40, sie hat einen liebevollen Ehemann und zwei Kinder, die sie täglich besuchen. Auf dem Tisch neben ihrem Bett stehen frische Blumen - die hat ihr Mann mitgebracht. Eigentlich sollte Lucica jetzt, in diesem Alter, das Leben in vollen Zügen genießen – doch sie wird sterben. Heute? Morgen? Niemand weiß das so genau. Aber das Ende ist unheimlich nahe.
Im Temeswarer Hospiz für Palliativkrankenpflege wird die junge Frau behandelt und betreut. Mit Professionalismus, aber vor allem mit viel Liebe und Respekt, damit sie einen würdevollen Lebensabend genießen kann. Seit zehn Jahren ist in Temeswar das Hospiz der Caritas Temeswar in Betrieb. Über 2000 Patienten wurden im Laufe der Zeit hier betreut – ungefähr 1300 dieser Menschen starben im „Haus der Göttlichen Barmherzigkeit“, so die Statistik der Hospiz-Leitung. Die Einrichtung in der Memorandului-Straße wird von der slowakischen Franziskanerschwester Savia Luchachova geleitet. Zum Hospice-Team gehören weitere sechs Franziskanerschwestern, denen Ärzte, Krankenschwestern und –pflegerinnen sowie eine Psychologin zur Seite stehen. „Wir behandeln nicht nur die Patienten, sondern auch deren Angehörige. Wir umhüllen den Schmerz mit Linderung“, sagt Schwester Savia, auf die Bedeutung des Wortes „Palliation“ hin deutend. Der Begriff kommt aus dem Lateinischen – „palliare“ heißt „mit einem Mantel umhüllen“, „verbergen“. Auch an einigen staatlichen Krankenhäusern sind Abteilungen für Palliativmedizin angesiedelt – doch in den meisten von ihnen sind viel zu wenig Mediziner für die vielen Patienten zuständig. Die Folge: Die Schwer(st)kranken werden wie am Fließband behandelt – die Palliativbehandlung verläuft nicht mehr ganzheitlich, die Seele wird vernachlässigt, die Angehörigen und deren Leiden außer Acht gelassen. Im „Haus der Göttlichen Barmherzigkeit“ ist die Stimmung eine völlig andere.
Ein letztes „Hallelujah“
Leise Musik ertönt aus einem Zimmer. Neben einem Krankenbett steht Schwester Livia, die Gitarre in der Hand. Sie spielt ein christliches Lied. Es ist eine rumänische Adaptation des Songs „Hallelujah“ von Leonard Cohen – und es mag Zufall sein, oder auch nicht, dass sie es gerade am heutigen 7. November spielt, der Tag, an dem der kanadische Sänger und Liederschreiber im Alter von 84 Jahren mit dem weltlichen Leben abgeschlossen hat. Im Bett nebenan liegt Veronica – kurz geschoren, mit ernstem Blick. Der Schmerz steht ihr im Gesicht geschrieben. Nicht älter als 65. Damit der Alltag nicht so düster erscheint, kommt Schwester Livia mit ihrer Gitarre und spielt christliche Lieder für die Kranken. Manche von ihnen – wie Veronica, zum Beispiel - wollen diese Lieder hören, andere wiederum geben sich ihrem Schmerz preis und bevorzugen die Stille. „Die Musik macht den Übergang leichter – sie geht ans Herz und beruhigt“, erklärt Schwester Savia. Und das brauchen Menschen im letzten Lebensabschnitt am meisten – die Ruhe. Nicht nur die physische, sondern vor allem die seelische Ruhe. Sie sollen mit sich selbst versöhnt den Schritt in die Unendlichkeit des weltlichen Endes wagen.
Das Hospiz für Palliativkrankenpflege der Caritas Temeswar ist eine besondere Einrichtung. Denn die Patienten erhalten nicht nur medizinische Hilfe, sondern vor allem spirituelle Unterstützung. Seelsorger aller Konfessionen kommen ins Hospiz und beten mit den und für die Kranken. „Das war nicht immer so gewesen. Aber ich freue mich, dass auch orthodoxe Priester nun zu uns kommen“, weiß Schwester Savia. „Wir begleiten die Menschen, spirituell, bis zu ihrem Lebensende. Die meisten von ihnen haben sich mit dem Tod abgefunden, denn die Krankheit verändert sie, der Körper spricht zur Seele. Auch wenn manche nicht religiös sind, so sind sie trotzdem gläubig – die menschliche Seele ist grundsätzlich gläubig“, sagt Schwester Savia. Das Hospiz hat einen großen Hof mit viel Grün. Hier können Patienten, die noch beweglich sind, ein bisschen Zeit an der frischen Luft verbringen. Vom Hof aus können sie auch die Kapelle betreten – ein Raum der Stille, der Einkehr und des Gebets.
Das „Haus der Göttlichen Barmherzigkeit“ ist praktisch ein kleines Krankenhaus. Im Schnitt werden hier 250 Menschen pro Jahr eingewiesen – für etwa 80 Prozent dieser Menschen ist das Hospiz auch die Endstation ihres Lebens. „Die Mehrheit unserer Patienten ist krebskrank. An zweiter Stelle befinden sich Patienten mit neurologischen und bronchopulmonalen Erkrankungen und an dritter Stelle sind es die Herzkranken, um die wir uns hier kümmern“, sagt Chefarzt Ovidiu M²ru{teri.
Unterstützung für das Hospiz
Gottesdienst in der römisch-katholischen Kirche aus der Temeswarer Elisabethstadt. Bischof Martin Roos zelebriert die Heilige Messe, die am heutigen Samstag im November anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des „Hauses der Göttlichen Barmherzigkeit“ gehalten wird. Die Kirche ist voll – Schwester Savia und die anderen Franziskanerschwestern sitzen in den ersten Reihen, mit dabei sind Hospiz-Angestellte sowie Freunde und Unterstützer der Einrichtung aus dem In- und Ausland. Es wird gebetet – für alle die Menschen, die zu den Rechten gegangen sind, aber auch dafür, dass das Hospiz noch lange bestehen bleibt. Mit dabei ist auch Caritas-Geschäftsführer Herbert Grün. „Es ist sehr wichtig, dass es eine solche Pflegeeinrichtung in Temeswar gibt. Das Hospiz ist für Leute gedacht, die man zu Hause nicht so pflegen kann, wie es hier möglich ist. Der besondere Charakter der Einrichtung besteht vor allem in der geistlichen Betreuung der Kranken“, sagt Herbert Grün. Gut ausgebildetes Personal ist in Rumänien nicht leicht zu finden. Zahlreiche Ärzte und Krankenschwestern wandern jedes Jahr aus – vor allem nach Deutschland, wo sie um ein Vielfaches besser bezahlt werden, aber auch unter viel besseren Bedingungen arbeiten können. Schwierigkeiten, gutes Personal zu finden, hat auch der Caritas-Chef gehabt. Doch er und Schwester Savia haben es im Laufe der Zeit geschafft, ein professionelles 15-köpfiges Hospiz-Team zu bilden. Die den Patienten angebotenen Dienstleistungen werden zu 80 Prozent von der Krankenkasse getragen – den Rest sichert die Einrichtung über Spenden – ein in den vergangenen Jahren immer schwierigeres Unterfangen. Dem Hospiz kommt, unter anderem, der Erlös des „Timi{oara Gospel Project“ zu Gute.
Unterstützung bekommt das Hospiz auch von Freiwilligen. In diesem Jahr kam die 64-jährige Jesuitenvolontärin Ida Hömmken-Keil nach Temeswar, um den Mitarbeitern des Palliativzentrums zu helfen. Es ist nicht ihr erster Einsatz in einer Palliativeinrichtung – Ida Hömmken-Keil hat in der Vergangenheit für kurze Zeit in einem Hospiz in den USA gearbeitet. „Es fällt mir nicht schwer, hier zu arbeiten. Ich beobachte die Menschen, die hier betreut werden, und ich sehe, dass ihre Zeit um ist. Und das kann ich so stehen lassen“, sagt sie. „Ich kann nur hoffen, dass ich ein wenig länger leben kann, weil ich gern lebe“, fügt sie lächelnd hinzu. Schwester Savia nennt Volontärin Ida „ein Segen“, denn sie hilft, wo sie nur kann – sei es beim Geschirrabspülen in der Küche, beim Blätter-Kehren oder sonst wo.
Ida Hömmken-Keil wird wohl zu Weihnachten zu ihrer Familie nach Deutschland fahren. Viele Menschen auf der ganzen Welt werden Heiligabend im Kreise ihrer Lieben verbringen. Für zwei kleine Kinder und ihren Vater wird Weihnachten 2016 das traurigste sein, das sie bisher erlebt haben. Es wird nämlich das erste Weihnachtsfest sein, das sie ohne ihre geliebte Mutter Lucica verbringen müssen.