Er betrachtet die Wand von oben nach unten und von unten nach oben, geht einige Schritte zurück und blickt erneut auf die Wand. Seine schwarze Hose und Jacke sind voller Farbflecken, doch das scheint dem jungen Mann gar nichts auszumachen. Er greift zu einer Molotow-Farbdose und beginnt zu sprühen. Zuerst entstehen einige Formen, die der junge Mann um weitere Elemente ergänzt – diesmal ist es eine andere Dose, die er in die Hand nimmt. Es sieht so aus, als ob er improvisieren würde und noch nicht genau wüsste, was am Ende entstehen soll. Doch der 23-Jährige hat in seinem Kopf ein klares Bild, das spontan um einige Formen bereichert wird, wenn die Inspiration wieder zuschlägt. André Ruiz de Freitas, Deco, wie er als Künstler bekannt ist, kam aus Brasilien, um die Wände der Stadt Temeswar/Timişoara mit seinen Graffitis zu verschönern.
Deco entdeckte frühzeitig seine Liebe zur bildenden Kunst. Als Kind hatte er alle Wände in dem Haus seiner Mutter bemalt. Mit 13 nahm ihn der Schulleiter ins Visier: Nachdem er die Wände in der Schultoilette „verschönerte“, wurde seine Mutter zum Direktor bestellt und André fast von der Schule verwiesen. Staunen tat seine Familie damals nicht, denn alle kannten Deco und seinen Wunsch, seiner Leidenschaft, dem Zeichnen, bei jeder Gelegenheit nachzugehen. „Obwohl ich Brasilianer bin, hat mir der Fußball noch nie gefallen. Das Einzige, was mich glücklich machte, war das Zeichnen“, erinnert sich Deco, der mit seinem Talent auch Geld verdiente, indem er seine Bilder verkaufte.
Großes Piece ziert Colterm-Tank
Ein sonniger Morgen in der Pestalozzi-Straße in Temeswar. Deco und Irlo sind um 7.30 Uhr von ihrer Herberge losgegangen, um frühzeitig mit der Arbeit anzufangen. Der große Öltank des Fernheizwerks Colterm soll im Rahmen des Streetart-Festivals 2013 mit einem großen Piece versehen werden. Die beiden Jungs kennen sich erst seit einem Tag, trotzdem scheint sich zwischen ihnen eine Freundschaft entwickeln zu haben. Obwohl sie aus zwei verschiedenen Welten stammen – der eine aus Bistritza in Rumänien, der andere aus Sao Paolo in Brasilien -, gibt es ein wichtiges Element, das sie verbindet: die Liebe zum Schönen, zur Kunst.
„Ich habe 2003 mit dem Skateboarding angefangen. Dadurch kam ich schnell mit der Graffiti-Szene in Berührung“, erinnert sich Deco. „Ich fühlte schnell, dass das Zeichnen auf Papier für mich nicht mehr ausreichte – ich wollte größere Formen malen“, fügt er hinzu. Für Deco ist alles, was irgendwo gemalt ist und eine Message vermittelt, Kunst. Egal, ob diese Kunst legal oder illegal ist. „Das einzige Problem ist, dass Streetart zu einer Mode geworden ist. Alle wollen zeigen, dass sie mehr machen, dass sie größer und höher sprühen können. Bei diesem Wettbewerb geht die Idee der Kunst verloren, denn dahinter steckt gar nichts mehr“, sagt der junge Mann, der es schade findet, dass Graffiti weitgehend immer noch als eine Form des Vandalismus betrachtet wird. Auch in Temeswar musste er für zwei Kommunalpolizisten Rede und Antwort stehen, die nicht über das Streetart-Festival informiert waren.
Zu Besuch auf dem alten Kontinent
Für Deco war Europa schon immer ein Traum gewesen. „Ich liebe Brasilien, aber ich mag die Kunstbewegung in Europa, die vielen Denkmäler und Museen, die es hier gibt. Hier kann ich leicht von einem Land zum anderen fahren und neue Kulturen entdecken“, sagt Deco. Im Januar kam er in Europa an und bereiste Frankreich, Deutschland, Holland und Großbritannien. In London begann er, seine Werke auf der Straße zu verkaufen und von dem Geld das Hostel zu bezahlen, in dem er übernachtete. Eines Tages traf er einen Obdachlosen auf der Straße und kam mit ihm ins Gespräch. Er fand heraus, dass es auch in London arme Leute gab, Leute, die auf der Straße lebten – und hörte sich ihre Geschichten an. Etwa zwei Wochen mischte er sich unter die Obdachlosen, um Inspiration für sein Tagebuch zu schöpfen, das er irgendwann als Buch veröffentlichen möchte – dann traf er den Sozialhelfer Sergiu Sidei aus Lugosch/Lugoj, der seit einigen Jahren in London lebt und arbeitet.
Ein glücklicher Zufall: Sergiu nahm Deco zu ihm aufs Schiff, wo der junge Mann ungestört seiner Leidenschaft nachgehen konnte. „Er sagte zu mir: Versenke und verbrenne das Schiff nicht. Dann packte er seine Tasche und war für einen Monat weg“, sagt Deco, der sich auf dem Schiff schnell zurechtfand. Obwohl er sein Rückflugticket nach Brasilien in der Tasche hatte, beschloss er, länger in Europa zu bleiben. In Großbritannien war es nach sechs Monaten allerdings nicht mehr möglich – sein Visum wurde nicht mehr verlängert. Er musste das United Kingdom verlassen, wusste aber nicht, wohin. Sein Freund Sergiu fand schnell eine Lösung: Er schickte Deco zu seinen Eltern nach Lugosch. Der orthoxe Pfarrer Mihai Sidei war mehr als erfreut, den talentierten jungen Mann bei sich zu Hause empfangen zu dürfen. Seit zwei Wochen ist Deco in Temeswar und sprüht hier im Rahmen des Streetart-Festivals. Die Verbindung zu den Organisatoren des Streetart-Festivals kam über die ADZ zustande.
Übung macht den Meister
Sonntag, 10 Uhr, an der Josephstädter Brücke. Ein paar Angler sitzen verschlafen am Ufer der Bega. Henry Lipkis, Streetartist aus den USA, und André „Deco“ sind zusammen mit Sergio Morariu, dem Veranstalter des Streetart-Festivals, vor Ort erschienen, um sich mit den jungen Sprühern aus Temeswar zu treffen. Es heißt, den Anfängern zu vermitteln, dass richtige Straßenkunst keine pure Dekoration ist, sondern einen tieferen Sinn hat und eine Message vermitteln soll. Auch zwischen Lipkis und Deco hat sich inzwischen eine Freundschaft entwickelt. Fünf junge Sprüher kommen zu dem Treffen. Sie unterhalten sich auf Englisch mit den beiden Profi-Straßenkünstlern, die damit schon längst ihr Brot verdienen. Decos und Lipkis´ Rat für die Sprayer ist einfach: Übung macht den Meister. Wenn man gut ist, wird die Abeit auch entlohnt. Talentierte Sprayer können gut mit ihrer Kunst verdienen. Das sollen die angehenden Sprüher unter anderen mit auf ihren Weg nehmen.
„Durch meine Kunst kann ich das sein, was immer ich auch möchte. Ich wünsche mir, dass die Leute ihre Kindheit nicht vergessen. Damals konnten sie noch in ihrer Traumwelt leben. Die Menschen sollen nie auf ihre Träume verzichten“, sagt Deco und malt ein paar Formen an die Wand. Es sind verschiedene Figuren, die ineinander fließen, und sein buntes Werk scheint tatsächlich aus Traumwelten inspiriert zu sein. Katzen, Bücher, Gesichter, Kerzen, Räder, Musikinstrumente, sie alle wiederfinden sich in Decos Werken und bieten viel Raum für Interpretationen.
Deco ist ein Beweis dafür, dass wenn man so richtig an seine Träume glaubt, diese auch in Erfüllung gehen. Von Rumänien aus wird er Anfang November in die Türkei fliegen. Aus purem Zufall traf er in London den Vertreter einer berühmten Galerie, der den jungen Künstler fördern möchte. Langzeitpläne hegt Deco nicht. „Komme, was wolle: Wenn ich das Gefühl habe, dass es das Richtige ist, dann genieße ich es, wenn nicht, dann ändere ich es eben“, sagt der junge Mann, der mit seinem Optimismus die Leute um ihn herum schnell ansteckt. Mit auf seinen Lebensweg nimmt Deco allerdings den Wunsch, sich als Künstler ständig weiterzuentwickeln. Einen Beitrag dazu wird wohl auch sein Rumänien-Aufenthalt leisten.